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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Mulie's laufen und alles erzählen würde?‹ Aber an Mulie's brauchte ich gar nicht zu denken, denn wenn er daheim ge wesen wäre, wäre er mir nachgerannt und hätte mich zurückgeschleppt. Und wenn er fort gewesen wäre … hätten sie mir geglaubt und wären mit in unser Haus gegangen, sie hätten meinen Bruder umgebracht – falls er noch irgendwo dort drinnen gewesen wäre – und mich ins Armenhaus gesteckt. Daddy hat gesagt, wenn er sich nicht um Paul und mich kümmern würde, würden wir ins Armenhaus wandern, wo sie dir 'ne Sicherheitsnadel durch den Pimmel stechen, wenn du Bettnässer bist … und die großen Jungs … den großen Jungs musst du nächtelang einen blasen …«
    Er verstummt, ringt um Fassung, ist zwischen Vergangen heit und Gegenwart hin- und hergerissen. Draußen heult der Sturmwind um das Antlers herum und lässt das Gebäude äch zen. Lisey möchte gern glauben, dass seine Geschichte un möglich wahr sein kann – dass dies irgendeine fantasievolle, grausige Halluzination aus seiner Kindheit ist –, aber sie weiß es besser. Sie weiß, dass jedes schreckliche Wort davon wahr ist. Als er dann weiterspricht, hört sie sein Bemühen, seine erwachsene Stimme, sein erwachsenes Ich zurückzugewinnen.
    »In Nervenkliniken gibt es Leute, oft Leute mit katastropha len Frontalhirnverletzungen, die in tierische Verhaltenswei sen zurückfallen. Davon habe ich gelesen. Aber das ist ein Vorgang, der sich meist über Jahre hinweg erstreckt. Bei mei nem Bruder ist die Veränderung von einem Augenblick zum anderen eingetreten. Und sobald sie eingetreten war, sobald er diese Linie überschritten hatte …«
    Scott muss schlucken. Das Klicken in seiner Kehle klingt, als würde ein Lichtschalter betätigt.
    »Wenn ich mit seinem Essen die Kellertreppe runtergekom men bin – Fleisch und Gemüse auf einer Kuchenplatte, als wollte man einen Schäferhund füttern –, ist er mit Schaum vor dem Mund bis ans Ende der Ketten, mit denen er an den Pfeiler gefesselt war, eine um den Hals und eine um die Taille, nach vorn gestürzt und dann so ruckartig gestoppt worden, dass er zu Boden gegangen ist und weiter wie ein Bool-Teufel geheult und gebellt hat – nur irgendwie gedämpft, bis er wie der zu Atem kam, verstehst du?«
    »Ja«, sagt sie mit schwacher Stimme.
    »Man musste die Platte auf den Boden stellen – ich hab noch immer den modrigen Erdgeruch in der Nase, den werd ich nie vergessen – und ihm dann hinschieben. Dafür hatten wir einen abgebrochenen Rechenstiel. Zu nahe durfte man nicht an ihn heran. Er hätte nach einem gekrallt, einen vielleicht an sich gerissen. Daddy brauchte mir nicht zu sagen, was passiert wär, wenn er mich erwischt hätte; er hätte mich bei lebendigem Leibe gefressen, hätte so viel gefressen, wie er konnte, egal, wie viel ich schrie. Und dies war der Bruder, der die Bools für mich gemacht hatte. Der mich geliebt hatte. Ohne Paul hätte ich es nie geschafft. Ohne ihn hätte Daddy mich umgebracht, bevor ich fünf war, nicht einmal mit Absicht, sondern weil er eben selbst bösmüllig war. Paul und ich hatten es gemeinsam geschafft. Kumpelsystem. Verstehst du?«
    Lisey nickt. Sie versteht es.
    »Nur war mein Kumpel im Januar dieses Jahres in unserem Keller doppelt angekettet – an dem Pfeiler und dem Tisch mit der Druckerpresse –, und man konnte die Grenzen seiner Welt an diesem Bogen erkennen … an diesem Bogen aus Scheiß haufen … wo er sich am Ende seiner Ketten hingehockt … und geschissen hatte.«
    Er drückt sekundenlang die Handballen auf seine Augen. An seinem Hals treten die Sehnen hervor. Er atmet mit geöff netem Mund – mit langen, rau bebenden Atemzügen. Lisey glaubt nicht, dass sie ihn fragen muss, wo er gelernt hat, sei nen Kummer so zu unterdrücken; sie weiß es jetzt. Als er wie der still ist, fragt sie: »Wie konnte dein Vater ihn überhaupt in Ketten legen? Weißt du das noch?«
    »Ich erinnere mich an alles, Lisey, aber das heißt nicht, dass ich alles weiß. Fünf- oder sechsmal hat er Paul etwas ins Essen gemischt, das weiß ich bestimmt. Ich schätze, dass es irgendein starkes Beruhigungsmittel war, aber ich habe keine Ahnung, wie er daran gekommen ist. Außer dem Grünzeug hat Paul immer alles verschlungen, was wir ihm hingestellt haben, und nach jeder Mahlzeit war er wie aufgeladen. Ist jaulend und bellend rumgehüpft; hat sich gegen seine Ketten geworfen – um sie zu zerreißen, denke ich – oder ist hochgesprungen und hat gegen die

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