Love
literarische Bagatellen in den abstrusen Journalen der jeweils anderen analysierten: ehrgeizige, übermäßig gebildete Blödmänner, die jedes Gefühl dafür verloren hatten, was Bücher und Lesen wirklich bedeuteten, und sich damit zufrieden-gaben, noch jahrzehntelang Stroh zu mit Fußnoten versehenem Katzengold zu spinnen. Aber die richtigen Pferde waren längst aus dem Stall. Das Scott-Landon-Zeug, das normalen Lesern gefallen hatte – Leuten, die in Flugzeugen zwischen
L. A. und Sidney saßen, Leuten, die in Krankenhauswarte zimmern festsaßen, Leuten, die sich an langen, verregneten Urlaubstagen abwechselnd mit dem Roman der Woche und dem Riesenpuzzle auf der Veranda beschäftigten –, all dieses Zeug war längst erschienen. The Secret Pearl, einen Monat nach seinem Tod veröffentlicht, war sein letzter Roman ge wesen.
Nein, Lisey, flüsterte eine Stimme, und sie dachte zunächst, es wäre Scotts Stimme, aber dann – echt verrückt! – dachte sie, es wäre Ole Hanks Stimme. Dabei war dies überhaupt kei ne Männerstimme. War es Good Mas Stimme, die da in ihrem Kopf flüster-flüster-flüster machte?
Ich glaube, er wollte, dass ich dir etwas erzähle. Etwas, das mit einer Geschichte zusammenhängt.
Nicht Good Mas Stimme – obwohl Good Mas Afghan, die gelbe Häkeldecke, irgendwie darin vorgekommen war –, sondern Amandas Stimme. Sie hatten miteinander auf den Stein bänken gesessen und das gute Schiff Stockrosen betrachtet, das stets vor Anker lag, aber nie die Segel setzte. Vor dieser Erinnerung an die Bänke war Lisey nie bewusst gewesen, wie ähnlich die Stimmen ihrer Mutter und ihrer ältesten Schwester klangen. Und …
Irgendwas von einer Geschichte. Deiner Geschichte. Liseys Geschichte.
Hatte Amanda das wirklich gesagt? Dies glich einem Traum, und Lisey war sich ihrer Sache nicht ganz sicher, aber sie ver mutete es.
Und von dem Afghan. Nur …
»Nur hat er ihn einen African genannt«, sagte Lisey halb laut. »Er hat ihn einen African genannt, und er hat es ein Bool genannt. Nicht Boop, nicht Beep, sondern Bool.«
»Lisey?«, rief Amanda von gegenüber. »Hast du was ge sagt?«
»Ich habe nur mit mir selbst geredet, Manda.«
»Das heißt, dass du Geld auf der Bank hast«, sagte Amanda, und dann war wieder der Soundtrack des Films zu hören. Lisey schien sich an jede Dialogzeile, an jeden kratzigen Fet zen Musik erinnern zu können.
Wo ist die Geschichte, Scott, wenn du mir eine hinterlassen hast? Nicht hier oben im Büro, darauf möchte ich wetten. Auch nicht unten in der Scheune – dort unten gibt es nur fal sche Bools wie Ike kehrt heim .
Aber das stimmte nicht ganz. In der Scheune war mindes tens ein wertvoller Gegenstand versteckt gewesen: Good Mas Zedernholzschatulle, die unter dem Bremer Bett gestanden hatte. Mit dem Freudenstück darin. Hatte Amanda davon ge sprochen?
Das glaubte Lisey nicht. Die Schatulle hatte eine Geschich te enthalten, aber es war ihre gemeinsame Geschichte gewe sen: Scott & Lisey: Jetzt sind wir zwei. Was war also ihre Geschichte? Und wo war sie?
Und weil gerade die Rede von Wos war: Wo war der Schwar ze Fürst der Inkunks?
Nicht auf Amandas Anrufbeantworter; auch nicht auf einem der hiesigen. Auf dem Anrufbeantworter drüben im Haus hatte Lisey nur eine Nachricht vorgefunden. Sie stammte von Deputy Alston.
»Mrs. Landon, dieses Gewitter hat in der Stadt ziemliche Schäden angerichtet, vor allem im Süden. Irgendjemand – hoffentlich Dan Boeckman oder ich – sieht so bald wie mög lich wieder nach Ihnen, aber bis dahin möchte ich Sie daran erinnern, alle Türen abzusperren und niemanden einzulassen, den Sie nicht identifizieren können. Das bedeutet, dass sie ihre Mützen abnehmen oder die Kapuzen ihrer Regenmän tel zurückschieben müssen, selbst wenn es in Strömen gießt, okay? Und tragen Sie Ihr Handy ständig bei sich. Denken Sie daran, dass Sie im Notfall nur auf KURZWAHL und die Einser taste drücken müssen. Dann sind Sie sofort mit dem Sheriff's Office verbunden.«
»Großartig«, hatte Amandas Kommentar dazu gelautet. »Unser Blut ist noch flüssig statt schon geronnen, wenn sie hier ankommen. Wahrscheinlich beschleunigt das ihre DNA -Tests.«
Lisey hatte sich nicht die Mühe gemacht, darauf zu antwor ten. Sie hatte ohnehin nicht vor, es dem Castle County She riff's Department zu überlassen, mit Jim Dooley fertig zu wer den. Aus ihrer Sicht hätte Dooley sich ebenso gut gleich selbst die Kehle mit ihrem Oxo-Büchsenöffner durchschneiden
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