Love
auf spiegelnden Oberflächen zu sehen glaubte, nicht ganz sicher war, ob sie wirklich pas sierten.
Manchmal schreckte sie morgens deutlich vor ihrer ge wohnten Zeit keuchend und trotz laufender Klimaanlage aus dem Schlaf hoch, schweißgebadet und mit einem Gefühl, mit dem sie als Kind oft aus Albträumen erwacht war: dass sie den Klauen des Ungeheuers nicht wirklich entronnen war, dass es weiter unter ihrem Bett lauerte und sie mit seiner kal ten verkrümmten Hand am Knöchel oder geradewegs durchs Kopfkissen greifen und sie im Genick packen würde. Jedes Mal wenn sie von einer solchen Panik erfasst hochschreckte, fuhr sie mit beiden Händen über die Bettdecke und dann übers Kopfende ihres Bettes, bevor sie die Augen öffnete, um sicher, absolut sicher zu sein, dass sie nicht … nun, woanders war. Wenn die Bänder erst mal überdehnt sind, dachte sie manchmal, sobald sie die Augen öffnete und ihr vertrautes Schlafzimmer mit großer, kaum auszudrückender Erleichte rung betrachtete, sind sie nächstes Mal viel anfälliger . Und sie hatte bestimmte Bänder überdehnt, nicht wahr? Ja. In dem sie erst Amanda in eine Richtung und dann Dooley in die Gegenrichtung gezerrt hatte. Sie hatte sie gewaltig über dehnt.
Nachdem sie ein halbes Dutzend Mal aufgewacht und festgestellt hatte, dass sie genau dort war, wo sie hingehörte – in dem Schlafzimmer, das früher Scott und ihr gehört hatte und jetzt nur noch ihres war –, hätten ihre Ängste sich eigentlich legen müssen, dachte Lisey, aber das taten sie nicht. Stattdessen wurden sie schlimmer. Sie kam sich vor, wie ein lockerer Zahn in einem vereiterten Zahnfach. Und dann, am ersten Tag der großen Hitzewelle – einer Hitzewelle, die der Kältewelle vor zehn Jahren ebenbürtig war, als wollte eine vielleicht nur zufällige, von ihr jedoch bemerkte Ironie des Schicksals einen Ausgleich schaffen –, trat schließlich genau das ein, was sie immer befürchtet hatte.
Sie streckte sich nur für eine Minute auf der Couch im Wohnzimmer aus, um ihre Augen auszuruhen. Der zweifellos idiotische, aber gelegentlich unterhaltsame Jerry Springer quasselte in der Flimmerkiste – meine Mutter hat mir meinen Freund ausgespannt, mein Freund hat mir meine Mutter ausgespannt, irgendwas in dieser Art. Lisey streckte eine Hand aus, um nach der Fernbedienung zu greifen und das verdammte Ding abzustellen, oder vielleicht träumte sie es auch nur, denn als sie die Augen öffnete, um die Fernbedienung zu suchen, lag sie nicht auf der Couch, sondern in Boo'ya-Mond auf dem Lupinenhügel. Es war heller Tag, doch obwohl keine Gefahr zu spüren war – jedenfalls deutete nichts auf die Nähe von Scotts Long Boy hin (denn so nann te sie ihn bei sich und würde ihn immer so nennen, auch wenn er jetzt vermutlich ihr Long Boy war, Liseys Long Boy) –, hatte sie solche Angst, dass sie vor Hilflosigkeit beinahe auf geschrien hätte. Aber statt das zu tun, schloss sie die Augen, stellte sich ihr Wohnzimmer vor, konnte plötzlich hören, wie die »Gäste« der Springer Show sich anschrien, und spürte das rechteckige Gehäuse der Fernbedienung in ihrer linken Hand. Eine Sekunde später stand sie von der Couch auf: mit vor Schreck geweiteten Augen und kribbelnder Gänsehaut. Sie konnte sich fast einbilden, dass sie alles nur geträumt hatte (was angesichts ihrer gegenwärtigen Besorgnis wegen dieses Themas nur logisch erschien), aber die Lebhaftigkeit dessen, was sie in diesen wenigen Sekunden gesehen hatte, sprach gegen diese Interpretation, so tröstlich sie auch gewesen wäre. Ebenfalls dagegen sprach der purpurrote Klecks, genau in Lupinenfarbe, auf dem Rücken der Hand, in der sie die Fernbedienung hielt.
6 Am nächsten Tag rief sie die Fogler Library an und sprach mit Mr. Bertram Partridge, dem Leiter der Abteilung für spezielle Sammlungen. Dieser Gentleman wurde immer aufgeregter, als Lisey ihm die Bücher beschrieb, die noch in Scotts Büro lagerten. Er nannte sie »assoziative Werke« und sagte, die Fogler Special Collections würden sie sehr gern übernehmen und mit ihr »in der Frage der steuerlichen Ab setzbarkeit zusammenarbeiten«. Das sei reizend, erwiderte Lisey, als hätte die Frage der steuerlichen Absetzbarkeit sie schon seit Jahren beschäftigt. Mr. Partridge versprach, gleich morgen ein »Team von Spediteuren« zu ihr hinauszuschicken, um die Bücher in Kartons verpacken und auf den Campus der University of Maine im hundertzwanzig Meilen entfernten Orono bringen zu lassen.
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