Love
Scheiß konntest du!«
Amanda, deren Teint im Widerschein der Armaturen fast unheimlich grün war, bedachte sie nur mit einem irritieren den Lächeln und sagte nichts. Lisey öffnete den Mund, um nochmals zu widersprechen, und klappte ihn dann wieder zu. Diese Geschichte konnte durchaus als glaubhaft durchgehen, weil sie auf zwei leicht verständlichen Annahmen beruhte: Amanda hatte sich verrückt aufgeführt (was nichts Neues war), und Lisey hatte ihr ihren Willen gelassen (was unter den gegebenen Umständen allzu verständlich war). Darauf konn ten sie aufbauen. Was den Schuhkarton mit dem Revolver betraf … und Dooleys Tüte …
»In Mechanic Falls machen wir kurz halt«, erklärte sie Amanda. »Auf der Brücke über den Androscoggin River. Ich muss ein paar Dinge entsorgen.«
»Ja, das musst du«, bestätigte Amanda. Dann faltete sie die Hände im Schoß, lehnte ihren Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen.
Lisey stellte das Radio an und war nicht im Geringsten überrascht, als Ole Hank »Honky Tonkin'« sang. Sie sang leise mit und stellte fest, dass sie noch jedes Wort auswendig wusste. Auch das überraschte sie nicht. Manche Dinge vergaß man eben nie. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass genau die Dinge, die eine praktisch veranlagte Welt als nebensächlich abtat – Dinge wie Songs und Mondschein und Küsse –, manchmal die Dinge waren, die am längsten hielten. Sie mochten töricht sein, aber sie waren gegen Vergessen resistent. Und das war gut so.
Das war gut so.
DRITTER TEIL : LISEYS STOR Y
Du bist der Ruf, und ich bin die Antwort , Du bist der Wunsch und ich die Erfüllung , Du bist die Nacht und ich bin der Tag . Was noch? Es ist perfekt genug . Du und ich . Es ist perfekt vollständig . Was noch – ? Seltsam, wie wir dennoch leiden! «
– D.H. Lawrence, »Bei Hennef«
XVI LISEY UND DER GESCHICHTEN-BAUM
(Scott hat das letzte Wort)
1 Sobald Lisey sich ernsthaft daranmachte, Scotts Büro auszuräumen, ging die Arbeit schneller voran, als sie je er wartet hätte. Ebenso wenig hätte sie erwartet, dass ihr dabei zuletzt nicht nur Amanda, sondern auch Darla und Canty hel fen würden. Canty blieb noch einige Zeit – sehr lange Zeit, wie Lisey fand – abweisend und misstrauisch, aber Amanda ließ das völlig kalt. »Sie tut nur so. Irgendwann gibt sie auf und wird wieder normal. Du musst ihr nur Zeit lassen, Lisey. Schwesternschaft ist mächtig.«
Irgendwann wurde Cantata tatsächlich wieder normal, ob wohl Lisey das Gefühl hatte, dass Canty sich nie ganz von dem Verdacht befreien konnte, Amanda hätte nur simuliert, um Aufmerksamkeit zu erregen, und Lisey und sie hätten irgendwas ausgeheckt, wahrscheinlich nichts Gutes. Darla wunderte sich über Amandas Genesung und den merkwürdi gen Trip ihrer Schwestern zur alten Farm in Lisbon Falls, aber zumindest glaubte sie nie, dass Amanda nur simuliert hatte.
Darla hatte sie schließlich selbst erlebt. Jedenfalls putzten die vier Schwestern die lange, weitläu fige Bürosuite in der Woche nach dem Unabhängigkeitstag,
räumten sie aus und engagierten ein paar kräftige Schüler, die ihnen halfen, wenn es schwere Dinge zu heben gab. Die größ ten Probleme in puncto schwere Dinge verursachte Dumbo's Big Jumbo, der demontiert (seine Bestandteile erinnerten Lisey an den zerlegbaren Menschen im Biologieunterricht, nur dass man diese Version als zerlegbaren Schreibtisch hätte bezeichnen müssen) und dann mit einem geliehenen Fla schenzug hinuntergelassen werden musste. Während die Tei le abgeseilt wurden, brüllten die Highschool-Schüler sich aufmunternde Worte zu; Lisey stand mit ihren Schwestern daneben und betete wie verrückt darum, dass keiner der Jungs in den Seilschlingen oder -rollen einen Daumen oder Finger verlieren würde. Zum Glück passierte nichts derglei chen, und nach Ablauf einer Woche war alles aus Scotts Büro abtransportiert, um teils gespendet, teils eingelagert zu wer den, bis Lisey sich überlegt hatte, was zum Teufel sie damit anfangen wollte.
Das heißt, alles bis auf die Bücherschlange. Die blieb da, döste weiter in dem langen, leeren Raum vor sich hin – in dem heißen Hauptraum, weil auch die Klimageräte nicht mehr da waren. Auch wenn die Dachfenster tagsüber offen standen und ein paar Ventilatoren die Luft bewegten, war es hier heiß. Kein Wunder, der Loft war schließlich nur eine lite rarisch veredelte Exscheune.
Und dann gab es hier diese hässlichen kastanienbraunen Flecken auf dem cremeweißen
Weitere Kostenlose Bücher