Love
Delta Tau, deren grapschende Hände sie ständig abwehren musste. Gott wusste, wie schnell sich ihre vagen Träume, ein paar Vorlesungen belegen zu können – vielleicht abends –, verflüchtigt hatten. Ihr fehlte es nicht an Verstand, sondern an Zeit und Energie. Sie hatte sich Darlas wirres Gerede angehört und sich zu beherrschen versucht, aber das war ihr natürlich nicht lange gelungen, und die Schwestern hatten sich zuletzt durch hundertvierzig Meilen Telefonleitung und über all die Familiengeschichten zwischen ihnen hinweg angeschrien. Dieses heillose Durcheinander, wie ihr Freund es vermutlich genannt hätte, hatte damit geendet, dass Darla wie jedes Mal sagte: »Mach, was du willst – tust du ja sowieso, tust du immer.«
Danach hatte sie keinen Appetit mehr auf das Stück Käse kuchen gehabt, das sie sich als Nachtisch aus dem Restaurant mitgebracht hatte, und erst recht keine Lust, in irgendeinen Ingmar-Bergman-Film zu gehen … aber sie hatte Sehnsucht nach Scott gehabt. Ja. Denn in den vergangenen Monaten, vor allem in den letzten vier bis fünf Wochen hat es sich so ergeben, dass sie Scott auf eigenartige Weise vertraut. Viel leicht ist das sentimental – wahrscheinlich –, aber in seiner Umarmung fühlt sie sich geborgen, wie es bei ihren bisherigen Freunden nie der Fall war; bei denen hat sie meistens Unge duld oder Überdruss empfunden. (Manchmal flüchtige Lust.) Aber Scott besitzt Liebenswürdigkeit, und bei ihm hat sie von Anfang an echtes Interesse gespürt – Interesse an ihr –, das sie kaum für möglich hielt, weil er so viel klüger und begabter ist. (Lisey bedeutet Liebenswürdigkeit mehr als Klugheit und Talent.) Aber sie nimmt es ihm ab. Und er spricht eine Spra che, die sie von Anfang an gierig aufgesogen hat. Nicht die Sprache der Debushers, sondern eine, die sie trotzdem sehr gut kennt – als spräche sie sie in ihren Träumen.
Aber was nutzt alles Reden, noch dazu in einer speziellen Sprache, wenn niemand da ist, mit dem man reden kann? Bei dem man sich vielleicht sogar ausheulen kann? Das brauchte sie an diesem Abend. Sie hatte ihm nie von ihrer verrückten, durchgeknallten Familie erzählt, aber heute würde sie es tun. Sie hatte das Gefühl, es tun zu müssen, damit sie nicht vor Trübsal explodierte. Deshalb hatte er sich natürlich genau diesen Abend dafür ausgesucht, sich zu verspäten. Während sie wartete, versuchte sie sich einzureden, dass Scott unmög lich wissen konnte, dass sie gerade den schlimmsten Krach der Welt mit diesem Miststück von einer älteren Schwester gehabt hatte, aber als aus sechs erst sieben, dann acht wurde, höre ich neun, neun zum Ersten, wer bietet neun, als sie noch ein kleines Stück vom Käsekuchen pickte und ihn dann in den Müll warf, weil sie zu verschmickt, nein, zu verfickt wütend war, um ihn zu essen, wir haben neun, wer bietet zehn, ich habe zehn Uhr, und noch immer hielt kein 1973er Ford mit einem flackernden Scheinwerfer vor ihrem Apart ment in der Main Street, und sie wurde noch wütender, bietet mir jemand zornig?
Sie saß vor dem Fernseher, neben sich ein Glas Wein, das sie kaum angerührt hatte, und vor sich einen Naturfilm, den sie nicht wahrnahm, als ihre Wut sich mehr und mehr in bitteren Zorn verwandelte und sie sich andererseits immer si cherer war, dass Scott sie nicht ganz versetzen würde. Er würde auf der Bildfläche erscheinen, wie man so schön sagte. In der Hoffnung, sich ein nasses Ende zu holen . Ein weiterer stolzer Fang aus dem Wörter-Pool, zu dem wir alle hinunter gehen, um unsere Netze auszuwerfen, und wie bezaubernd dieser Fang war! Wie bezaubernd sie alle waren! Es gab auch noch sich die Asche abklopfen lassen, seinen Docht eintun ken, das Tier mit zwei Rücken machen, kuscheln und das sehr elegante ein Stück runterreißen . Wie sehr sie alle nach Nim mer-Nimmerland klangen, und während sie dasaß und auf das Motorengeräusch des 1973er Ford Fairlane ihres speziel len verlorenen Jungen horchte – dieses kehlige Brabbeln war unverkennbar, es kam von einem Loch im Schalldämpfer oder sonst wo im Auspuff –, dachte sie daran, was Darla gesagt hatte: Mach, was du willst, tust du ja sowieso . Ja, und hier hockte sie nun, die kleine Lisey, Königin der Welt, die machte, was sie wollte, und in diesem schäbigen kleinen Apartment auf ihren Freund wartete, der betrunken und verspätet auf kreuzen, aber trotzdem noch ein Stück vom Kuchen wollen würde, denn das wollten sie alle, das war sogar ein blöder
Weitere Kostenlose Bücher