Love
hatte Lisey nicht gerade dazu bewogen, das Personal zu beneiden, das diesem Kerl unterstand, aber es hatte ihr wenigstens dazu verholfen, aus Greenlawn heraus und letztlich hierherzukommen: auf dem Randstreifen einer Landstraße geparkt, wo alte Erinnerungen wie eine hungrige Hundemeute an ihren Fersen kläfften und nach ihrem purpurroten Vorhang schnappten … nach ihrem verhassten, kostbaren purpurroten Vorhang.
»Mann, hab ich mich verirrt«, sagte sie und ließ die Hände sinken. Sie schaffte es, matt zu lächeln. »Im tiefsten, dunkels ten verdammten Wald verirrt.«
Nein, ich glaube, dass der tiefste, dunkelste Wald erst noch kommt – in der Vergangenheit, wo die Bäume dick sind und ihr Geruch süß ist und die Gegenwart sich immer noch er eignet. Sich ständig ereignet. Weißt du noch, wie du ihm an jenem Tag gefolgt bist? Wie du ihm durch den ungewöhnli chen Oktoberschnee und in den Wald gefolgt bist?
Natürlich wusste sie das noch. Er spurte, und sie folgte ihm, indem sie versuchte, ihre Schneeschuhe genau in die Spuren ihres verwirrenden jungen Gatten in spe zu setzen. Und dies war der damaligen Situation sehr ähnlich, nicht wahr? Aber wenn sie es schaffen wollte, benötigte sie zuvor noch etwas anderes. Ein weiteres Stück Vergangenheit.
Lisey stellte den Automatikhebel auf D, kontrollierte die Straße hinter sich im Rückspiegel, wendete, fuhr in die Rich tung zurück, aus der sie gekommen war, und gab ihrem BMW ordentlich die Sporen.
12 Naresh Patel, der Besitzer von Patel's Market, hatte selbst Dienst, als Lisey an diesem langen, langen Donnerstag kurz nach sieben Uhr hereinkam. Er saß in einem Gartenses sel hinter der Registrierkasse, aß ein Curry und sah zu, wie Shania Twain im Country Music Television die Hüften schwang. Bei ihrem Anblick stellte er sein Curry beiseite und stand tatsächlich für Lisey auf. Sein T-Shirt verkündete I ♥ DARK SCORE LAKE .
»Bitte eine Packung Salem Lights«, sagte Lisey. »Oder geben Sie mir lieber gleich zwei.«
Mr. Patel, der seit fast vierzig Jahren im Einzelhandel tätig war – erst als Angestellter im Laden seines Vaters in New Jer sey, dann als Besitzer seines eigenen Geschäfts –, hütete sich davor, Bemerkungen über scheinbare Abstinenzler zu ma chen, die plötzlich Schnaps kauften, oder über scheinbare Nichtraucher, die plötzlich Zigaretten verlangten. Er holte einfach das gewünschte Gift aus den reichlich mit diesem Zeug bestückten Fächern, legte es auf die Theke und machte eine Bemerkung über das schöne Wetter. Er gab vor, Mrs. Landons fast schockierte Miene, als sie den Preis ihres Gifts hörte, nicht zu registrieren. Ihr Schock zeigte nur, wie lange ihre Pause zwischen dem Aufgeben und dem Wiederanfan gen gewesen war. Wenigstens konnte sie sich ihr Gift leisten; Mr. Patel hatte Kunden, die ihre Kinder hungern ließen, um sich dieses Zeug kaufen zu können.
»Danke«, sagte sie.
»Bitte sehr, beehren Sie uns bald wieder«, sagte Mr. Patel und begab sich in seinen Sessel, um zuzusehen, wie Darrel Worley »Awful Beautiful Life« sang. Das war einer seiner Lieblingssongs.
13 Lisey hatte neben dem Laden geparkt, um die Zu fahrt zu keiner der Zapfsäulen zu blockieren – es gab insge samt vierzehn auf sieben blitzsauberen Inseln –, und sobald sie wieder am Steuer saß, startete sie den Motor, damit sie ihr Fenster herunterlassen konnte. Das XM -Radio unter dem Armaturenbrett (wie Scott diese vielen Musiksender geliebt hätte!) ging an und spielte leise. Es war auf The 50s on 5 eingestellt, und Lisey war nicht gerade überrascht, als sie »Sh-Boom« hörte. Jedoch nicht von den Chords; das hier war die Coverversion eines Quartetts, das Scott immer als die Four White Boys bezeichnet hatte. Außer wenn er betrunken gewesen war. Später hatte er sie The Cleancut Honkies ge nannt.
Sie riss eine ihrer neuen Packungen auf und steckte sich eine Salem Light zwischen die Lippen … erstmals seit? Wann hatte sie das letzte Mal geraucht? Vor fünf Jahren? Sieben? Als der Zigarettenanzünder des BMW wieder heraussprang, hielt sie ihn ans Ende ihrer Zigarette und nahm einen vorsich tigen Zug von dem mentholhaltigen Rauch. Sie hustete ihn sofort wieder aus, hatte Tränen in den Augen. Sie versuchte einen weiteren Zug. Der klappte etwas besser, doch fing sie jetzt an, sich leicht schwindlig zu fühlen. Ein dritter Zug. Überhaupt kein Husten mehr, nur ein Gefühl, als wäre sie kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Falls sie nach vorn aufs Lenk rad
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