Love
sagt Lisey. Sie schafft es, ein paar Glassplitter vor der jungen Schwester aufzuklauben, und legt sie aufs Tablett. Anschließend tupft sie mit der Serviette den verschütteten Saft auf. »Das war das Frühstückstablett meines Mannes. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht helfen würde.«
Die Schwester wirft ihr einen seltsamen Blick zu – es erin nert sie an das Sie sind mit IHM verheiratet -Starren, an das Lisey sich mehr oder weniger gewöhnt hat, dennoch ist es nicht genau dieser Blick. Dann sieht sie wieder zu Boden und beginnt nach weiteren Glassplittern zu suchen, die sie über sehen haben könnte.
»Er hat gegessen, nicht wahr?«, fragt Lisey lächelnd.
»Ja, Ma'am. Sogar sehr gut, wenn man bedenkt, was er hinter sich hat. Eine halbe Tasse Kaffee – mehr darf er noch nicht, ein Rührei, etwas Apfelmus und einen Becher Jell-O. Den Saft hat er nicht ausgetrunken. Wie Sie sehen.« Sie erhebt sich mit dem Tablett in der Hand. »Ich hole ein Handtuch aus dem Stationszimmer und wische den Rest auf.«
Die junge Schwester zögert, dann lässt sie ein nervöses kleines Lachen hören.
»Ihr Mann hat ein wenig von einem Magier an sich, nicht wahr?«
Ohne bestimmten Grund denkt Lisey: SUWAS – schnall's um, wenn's angebracht scheint. Aber sie lächelt nur und sagt: »Er beherrscht alle möglichen Tricks, das stimmt. Krank oder gesund. Mit welchem hat er Sie reingelegt?« Und irgendwo ganz tief drinnen erinnert sie sich an die Nacht des ersten Bools, als sie in ihrem Apartment in Cleaves Mills schlafwan delnd ins Bad unterwegs ist und dabei Scott, beeil dich sagt? Und das sagt sie, weil er da drin sein muss, da er garantiert nicht mehr bei ihr im Bett ist?
»Ich bin reingegangen, um nach ihm zu sehen«, sagt die Krankenschwester, »und hätte schwören können, dass das Bett leer war. Ich meine, der Ständer mit dem Tropf war da, und die Flasche hing noch dran, aber … ich dachte, er hätte die Nadel rausgezogen und wäre ins Bad auf die Toilette ge gangen. Patienten, die starke Schmerzmittel bekommen, ma chen alle möglichen verrückten Sachen, wissen Sie.«
Lisey nickt und hofft dabei, dass auf ihrem Gesicht das erwartungsvolle kleine Lächeln steht, das besagt: Diese Ge schichte kenne ich schon, höre sie mir aber gerne noch ein mal an.
»Also bin ich ins Bad gegangen, aber das war auch leer. Und als ich mich umgedreht habe …«
»War er wieder da«, ergänzt Lisey an ihrer Stelle. Sie spricht sanft, hält das kleine Lächeln aufrecht. »Presto, Abrakadabra, Simsalabim!« Und Bool, das Ende, denkt sie.
»Ja. Woher haben Sie das gewusst?«
»Nun«, sagt Lisey weiter lächelnd, »Scott versteht es, sich seiner Umgebung anzupassen.«
Das müsste eigentlich unglaublich dumm klingen – die ungeschickte Lüge eines ziemlich fantasielosen Menschen –, aber das tut es nicht. Weil es nicht gelogen ist. In Kaufhäusern und Supermärkten (in denen er aus irgendeinem Grund fast immer unerkannt bleibt) verliert sie ihn ständig aus den Au gen, und einmal hat sie ihn fast eine halbe Stunde lang in der University of Maine gesucht, bevor sie ihn im Zeitschriften saal erspähte, in dem sie schon zweimal nachgesehen hatte. Als sie ihm vorwarf, er hätte sie warten lassen und sich an einem Ort versteckt, wo sie nicht einmal seinen Namen rufen durfte, hatte Scott schulterzuckend protestiert, er sei die gan ze Zeit im Zeitschriftensaal gewesen und habe in den neuen Lyrikmagazinen geblättert. Und das Seltsame daran war, dass sie nicht einmal dachte, er hätte es mit der Wahrheit nicht so genau genommen oder gar gelogen. Sie hatte ihn nur irgend wie … übersehen.
Die Miene der Schwester hellt sich auf. »Genau das hat Scott auch gesagt – er passt sich seiner Umgebung irgendwie an.« Sie errötet leicht. »Er hat gesagt, dass wir ihn Scott nen nen sollen. Hat praktisch darauf bestanden. Das stört Sie hof fentlich nicht, Mrs. Landon.« Diese junge Südstaatlerin spricht Mrs. wie Miz aus, aber ihr Akzent geht Lisey nicht auf die Nerven wie gestern Dashmiels.
»Nein, das ist in Ordnung. Das sagt er zu allen Mädchen, besonders zu den hübschen.«
Die Schwester lächelt, errötet noch mehr. »Er hat gesagt, ich hätte ihn angesehen, ohne ihn wahrzunehmen. Und dann hat er so was gesagt wie: ›Ich war schon immer ein sehr wei ßer Weißer, aber seit ich so viel Blut verloren habe, muss ich unter den ersten zehn sein.‹«
Lisey lacht höflich, während sich gleichzeitig ihr Magen zusammenzieht.
»Und
Weitere Kostenlose Bücher