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Lovesong

Titel: Lovesong Kostenlos Bücher Online Lesen
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doch«, sage ich. Ich rücke näher an sie heran und halte die Hände unter den elektrischen Händetrockner.
    »Nein, daran lag es nicht. Eines der Fächer, die man zu Beginn belegen muss, ist Musiktheorie. Das wird von einem Professor namens Lemsky unterrichtet. Er ist ’ne ganz große Nummer im Fachbereich. Ein Russe. Stell dir jedes verdammte Klischee vor, das dir einfällt, dann hast du ein exaktes Bild von ihm. Ein fieser, vertrockneter alter Kerl. Wie aus einem Roman von Dostojewski. Mein Dad hätte ihn geliebt. Nach ein paar Wochen lässt er mich zu sich in sein Büro rufen. Normalerweise ist das kein gutes Zeichen. Da sitzt er also hinter seinem unaufgeräumten Schreibtisch, überall Stapel von Papier und Notenblättern. Und er fängt an, mir von seiner Familie zu erzählen. Ukrainische Juden. Sie haben diverse Pogrome überlebt. Und auch noch den Zweiten Weltkrieg. Dann sagt er zu mir: ›Jeder hat es mal schwer im Leben. Jeder muss Schmerzen erleiden. Du wirst hier an der Fakultät verhätschelt wegen dem, was du durchgemacht hast. Ich hingegen bin der Meinung, dass das ein Fehler ist und du genauso gut bei dem Unfall hättest sterben können, weil wir nämlich dein Talent im Keim ersticken. Und du willst doch nicht, dass wir das tun, oder?‹ Da ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte, stand ich einfach nur da. Und dann brüllte er mich plötzlich an: ›Willst du das? Willst du, dass wir dein Talent kaputtmachen?‹ Und ich brachte mühsam ein piepsiges ›Nein‹ hervor. Und dann meinte er: ›Gut.‹ Dann nahm er seinen Stab zur Hand und prügelte mich damit regelrecht zur Tür raus.«
    Ich hätte da schon eine Idee, wohin ich dem Kerl seinen Stab stecken würde. Ich schnappe mir meine Bowlingkugel und jage sie die Bahn runter. Mit einem befriedigenden Krachen donnert er in die Pins; die fliegen in alle Richtungen davon, wie kleine Menschen, die vor Godzilla fliehen. Als ich zu Mia zurückkehre, bin ich wieder ruhiger.
    »Sehr gut«, sagt sie, während ich gleichzeitig sage: »Klingt so, als wäre dein Professor ein richtiger Arsch!«
    »Stimmt schon, er ist nicht gerade der Beliebteste. Und ich hatte damals ganz schön Angst vor ihm, aber im Nachhinein bin ich der Meinung, dass das eine der wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben war. Weil er der Erste war, der mich nicht einfach so hat durchkommen und bestehen lassen.«
    Ich drehe mich um, erleichtert, dass ich einen Grund habe, mich wieder von ihr zu entfernen, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht sieht. Ich werfe ihre pinkfarbene Kugel die Bahn runter, aber sie bekommt einen Drall und rollt nach rechts. Ich haue sieben um, die restlichen drei bilden einen Split. Bei meinem nächsten Versuch schaffe ich nur noch einen von ihnen. Der Gerechtigkeit halber vermassle ich meinen nächsten Wurf ebenfalls und haue nur sechs Pins um.
    »Tja, ein paar Tage später, bei der Orchesterprobe«, fährt Mia fort, »nimmt er also mein Glissando auseinander, und zwar schonungslos.« Sie grinst, erfüllt von der glücklichen Erinnerung an ihre Demütigung.
    »Es geht doch nichts über eine ordentliche Tracht Prügel in der Öffentlichkeit.«
    »Aber klar doch! Es war großartig. Wohl die weltweit beste Therapie.«
    Ich starre sie an. »Therapie« war als Wort früher völlig tabu. Im Krankenhaus und in der Reha hatte man Mia einen Trauerbegleiter zugewiesen, doch sie hatte sich geweigert, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten, als sie schließlich wieder daheim war. Kim und ich waren damit gar nicht einverstanden gewesen und wollten es ihr ausreden. Mia aber hatte behauptet, jede Woche eine Stunde lang über ihre tote Familie reden zu müssen habe keinerlei therapeutischen Nutzen für sie.
    »Nach diesem Ereignis schienen sich an der Fakultät plötzlich alle um mich herum zu entspannen«, erzählt sie. »Lemsky machte es mir schon ziemlich schwer. Er ließ mir keine Freizeit. Ließ mir kein Leben außerhalb des Cellospielens. In den Sommermonaten trat ich auf Festivals auf. Aspen, dann Marlborough. Und dann drängten Lemsky und Ernesto mich gleichermaßen, mich für das Young-Concert-Artists-Programm zu bewerben, was im Grunde verrückt war. An der Juilliard aufgenommen zu werden ist ein Kinderspiel dagegen. Aber ich tat es trotzdem. Und ich hab es geschafft. Deshalb hab ich heut Abend in der Carnegie Hall gespielt. Normalerweise treten Zwanzigjährige nicht in der Zankel Hall auf. Und plötzlich stehen mir sämtliche Türen offen. Ich hab sogar mein

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