Lovesong
Zuneigung in ihrem Blick, aber ich bemerke auch noch etwas anderes: eine gewisse Härte. Es zerstückelt meinen Zorn und setzt die Einzelteile zu einer neuen Form der Furcht zusammen.
»Du hast dich so sehr darum bemüht, mein Retter zu sein, dass du mich darüber völlig allein gelassen hast«, sagt sie. »Mir ist klar, dass du nur helfen wolltest, aber damals fühlte sich das irgendwie so an, als würdest du mich von dir stoßen, indem du, nur zu meinem Besten natürlich, alles von mir abzuschirmen versuchtest, und genau dadurch hast du mich noch mehr in die Opferrolle gedrängt. Ernesto meint, dass gute Absichten uns bisweilen so sehr einschränken können, dass wir das Gefühl haben, in einem Sarg eingenagelt zu sein.«
»Ernesto? Was zum Teufel weiß er denn darüber?«
Mia zieht mit den Zehenspitzen die Lücke zwischen den hölzernen Brettern der Fußgängerbrücke nach. »Eine ganze Menge, wenn du es genau wissen willst. Er hat seine Eltern verloren, als er acht war. Er wurde von seinen Großeltern großgezogen.«
Ich weiß, dass ich jetzt Mitleid empfinden sollte. Aber eine Welle der Wut schwappt über mich. »Was denn, seid ihr in einem Club oder so?«, frage ich, wobei meine Stimme sich überschlägt. »Eine Art Trauerclub, bei dem ich nicht mitmachen darf?«
Eigentlich erwarte ich, dass sie mir widerspricht. Oder dass ich als Mitglied anerkannt werde. Schließlich habe ich sie ja genauso verloren. Nur dass es selbst damals schon irgendwie anders war, als hätte es eine Barriere gegeben. Das ist eine Sache, die man beim Trauern nie erwarten würde. Dass es nämlich ein richtiger Wettbewerb sein kann. Denn ganz gleich, wie wichtig sie mir waren, egal, wie sehr die Leute mir immer wieder bestätigten, wie leid es ihnen doch tat, Denny, Kat und Teddy waren nicht meine Familie gewesen, und plötzlich hatte dieser Unterschied tatsächlich große Bedeutung erlangt.
Und offensichtlich zählt dieser Unterschied immer noch. Denn jetzt hält Mia kurz inne und denkt über meine Frage nach. »Vielleicht nicht unbedingt ein Trauerclub. Eher so was wie ein Club der Schuldigen. Schuldig, weil man zurückgeblieben ist.«
Ach, hör bloß auf, was von Schuld zu faseln! Schuldgefühle hab ich schon viel zu viele . Wie ich da so auf der Brücke stehe, fühle ich Tränen in mir hochsteigen. Ich kann sie nur zurückhalten, indem ich meinen Zorn wiederfinde, der mich so lange über Wasser gehalten hat, und damit gegen sie ankämpfe. »Aber du hättest mir wenigstens erklären können, warum«, sage ich, und meine Stimme überschlägt sich und wird zu einem Brüllen. »Statt mich einfach so fallen zu lassen wie einen unbedeutenden One-Night-Stand, hättest du wenigstens den Anstand haben können, richtig mit mir Schluss zu machen. Statt mich einfach zu verlassen und mich drei Jahre im Unklaren zu lassen …«
»Ich hab es doch auch nicht geplant«, protestiert sie, jetzt ebenfalls lauter. »Ich bin doch nicht in dieses Flugzeug gestiegen in der Absicht, mit dir Schluss zu machen. Du hast mir alles bedeutet. Selbst dann noch, als es passiert war, konnte ich es selbst nicht glauben. Aber es war nun mal so. Dass ich hier war, weit weg von daheim, das machte alles so viel leichter. Ich hatte das auch nicht erwartet. Denn eigentlich hatte ich das Gefühl, ich könnte nicht mehr weiterleben. Und dann entpuppte sich das plötzlich als eine so große Erleichterung.«
Ich denke an all die Mädchen, deren Abgang ich überhaupt nicht hatte erwarten können. Mein ganzer Körper schien jedes Mal erleichtert aufzuatmen, wenn ich eine von ihnen endlich nicht mehr hören und riechen musste. Die meiste Zeit fällt auch Bryn in diese Kategorie. So hat sich mein Abgang also für Mia angefühlt?
»Ich hatte ja vor, es dir zu sagen«, fährt sie fort. Die Worte sprudeln jetzt nur so aus ihr heraus, dass sie kaum noch Luft kriegt. »Aber erst war ich selbst so durcheinander, ich wusste doch gar nicht, was da passierte, nur dass ich mich plötzlich besser ohne dich fühlte. Wie hätte ich dir das erklären sollen? Und dann verstrich die Zeit, und du hast mich nicht mehr angerufen und nicht mehr nachgefragt. Deswegen ging ich davon aus, dass du, ausgerechnet du, das verstanden hast. Ich weiß, dass ich mich echt feige verhalten habe. Aber ich dachte doch …« Mia kommt kurz aus dem Tritt, fängt sich jedoch schnell wieder. »Ich dachte, ich dürfte das. Und du würdest das verstehen. Immerhin sah es ganz danach aus. Du singst doch in einem
Weitere Kostenlose Bücher