Lovesong
hören als das Brüllen in meinem Kopf, ein wortloses Heulen, während Mia verschwindet und ich verzweifelt versuche, das zuzulassen.
Aber da ist auch noch etwas anderes. Eine leise Stimme, die versucht, zu mir durchzudringen, die versucht, das tosende Nichts zu durchdringen. Und die Stimme wird lauter und lauter, und dieses Mal ist es meine Stimme, und sie stellt immer nur die eine Frage: Woher weiß sie es?
18
Geht es dir gut in deinem Leid?
Ruhst du in Frieden in Einsamkeit?
Es ist alles, was uns noch verbindet,
das Einzige, worin ich Trost noch finde.
»Blue«, Collateral Damage, Song Nummer 6
Mia ist weg.
Die Brücke wirkt wie ein Geisterschiff aus einem anderen Jahrhundert, selbst jetzt, da sie sich eindeutig mit Leuten aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert füllt: mit frühmorgendlichen Joggern.
Und da bin ich, wieder einmal allein.
Aber ich stehe immer noch aufrecht. Ich atme immer noch. Und irgendwie geht es mir auch so weit ganz gut.
Doch immer noch ist da diese Frage: Woher weiß sie es? Denn ich habe nie jemandem erzählt, worum ich sie gebeten habe. Nicht den Krankenschwestern. Nicht ihren Großeltern. Nicht Kim. Und auch nicht Mia selbst. Woher weiß sie es also?
Wenn du bleibst, tue ich, was immer du willst. Ich verlasse die Band, gehe mit dir nach New York. Aber wenn du willst, dass ich aus deinem Leben verschwinde, dann tue ich auch das. Ich habe mit Liz geredet, und sie meinte, dass es vielleicht zu schmerzhaft für dich sein würde, in dein altes Leben zurückzukehren, dass es vielleicht leichter wäre, wenn du unsere Beziehung einfach hinter dir lassen würdest. Das wäre schlimm, aber ich würde es akzeptieren. Ich kann ertragen, dich so zu verlieren, wenn ich dich nur nicht hier und heute verlieren muss. Ich werde dich gehen lassen. Wenn du bleibst.
Das waren meine Worte. Und es ist immer mein Geheimnis gewesen. Meine Last. Meine Schande. Dass ich sie gebeten habe, zu bleiben. Dass sie auf mich gehört hat. Denn nachdem ich ihr dieses Versprechen gegeben und ihr ein Cellostück von Yo-Yo Ma vorgespielt hatte, da machte es tatsächlich den Anschein, als hätte sie mich verstanden. Sie drückte meine Hand, und ich glaubte, alles würde sein wie im Film, doch sie tat nichts weiter, als sie zu drücken. Sie blieb weiter ohne Bewusstsein. Allerdings stellte dieses Drücken sich als eine erste willentliche Muskelbewegung ihrerseits heraus, die gefolgt wurde von weiteren Bewegungen, bis sich ihre Augen öffneten und sie ein- oder zweimal blinzelte, und irgendwann blieben sie dann länger offen. Eine der Schwestern erklärte mir, dass Mias Gehirn so was wie ein kleines Vögelchen sei, das seinen Weg aus dem Ei zu picken versuche, und dass dieses Drücken ihrer Hand nur der Anfang gewesen sei, der Versuch, aufzutauchen, der noch einige Tage dauern sollte, bis sie endlich aufwachte und nach Wasser fragte.
Jedes Mal, wenn sie über den Unfall sprach, erklärte Mia, dass ihre Erinnerung an diese Woche vollkommen unscharf sei. Sie erinnerte sich an nichts. Und ich wollte ihr garantiert nichts von meinem Versprechen erzählen. Ein Versprechen, das ich am Ende auch noch gezwungen war, zu halten.
Doch sie weiß davon.
Kein Wunder, dass sie mich hasst.
Das Komische ist, dass es irgendwie eine Erleichterung ist. Ich habe es so satt, mit diesem Geheimnis durch die Gegend zu rennen. Ich habe es satt, mich schlecht zu fühlen dafür, dass ich sie gezwungen habe, weiterzuleben, und ich habe es satt, wütend zu sein darüber, dass sie ihr Leben ohne mich weitergeführt hat. Und ich habe es satt, mich wie ein Heuchler zu fühlen dafür, dass ich uns diesen ganzen Schlamassel eingebrockt habe.
Eine Weile bleibe ich auf der Brücke stehen, damit Mia entkommen kann, dann gehe ich die restlichen Schritte nach unten auf die Rampe zu. Unten auf der Straße habe ich Dutzende von Taxis vorbeifahren sehen. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ein Taxi finden werde, das mich zurück ins Hotel bringt, auch wenn ich keinen Schimmer habe, wo ich mich gerade befinde. Doch als ich unten ankomme, stehe ich auf einem Platz, nicht an der Straße, auf der die Autos fahren. Ich spreche einen Jogger an, einen Typen mittleren Alters, der schnaubend von der Brücke runterkommt, und frage ihn, wo ich ein Taxi kriegen könnte. Er deutet mit dem Finger auf eine Reihe von städtischen Gebäuden. »Normalerweise gibt es da unter der Woche eine Schlange. Keine Ahnung, wie das am Wochenende so ist, aber ich bin mir ziemlich
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