Lovesong
sicher, dass Sie da irgendwo ein Taxi kriegen.«
Er hat einen iPod umhängen und die Kopfhörer rausgenommen, um mit mir reden zu können, aber die Musik spielt immer noch. Gerade läuft Fugazi. Der Typ joggt doch tatsächlich zur Musik von Fugazi, ich höre das Ende von »Smallpox Champion«. Dann springt der Player weiter zum nächsten Song, »Wild Horses« von den Rolling Stones. Die Musik, das ist irgendwie, keine Ahnung, wie frisches Brot auf leeren Magen oder wie ein Holzfeuer an einem kalten Tag. Sie dringt aus den Kopfhörern und lockt mich.
Der Typ sieht mich weiter an. »Bist du nicht Adam Wilde? Von Shooting Star?«, fragt er. Überhaupt nicht wie ein Fan, eher neugierig.
Es kostet mich einiges an Anstrengung, nicht weiter auf die Musik zu achten, um ihm wieder meine Aufmerksamkeit zu schenken. »Ja, bin ich.« Ich strecke ihm die Hand hin.
»Ich will ja nicht aufdringlich sein«, meint er, nachdem wir uns die Hände geschüttelt haben, »aber wieso läufst du am Samstagmorgen um halb sieben hier auf der Brooklyn Bridge rum? Hast du dich verlaufen?«
»Nein, ich hab mich nicht verlaufen. Jedenfalls nicht mehr, ich bin wieder auf dem richtigen Weg.«
Mick Jagger jault vor sich hin, und ich muss mir regelrecht auf die Lippen beißen, um nicht spontan mitzusingen. Früher bin ich nirgendwo hingegangen, ohne Musik dabeizuhaben. Und dann war es plötzlich wie mit allem anderen auch, alles oder nichts. Jetzt aber will ich alles. Jetzt brauche ich es. »So verrückt es auch klingt, aber würdest du mir einen riesigen Gefallen tun?«, frage ich.
»Okaaay?«
»Kann ich mir deinen iPod ausleihen? Nur für einen Tag? Wenn du mir deinen Namen und deine Adresse gibst, dann lass ich ihn dir per Kurier bringen. Ich versprech dir, du hast ihn morgen zum Laufen wieder.«
Er schüttelt den Kopf und lacht. »Ein frühmorgendlicher Lauf pro Woche reicht mir, aber klar, du kannst ihn dir ausleihen. Die Klingel an meiner Tür funktioniert zwar nicht, aber du kannst ihn einfach zu Nick im Southside Café an der Sixth Avenue in Brooklyn bringen lassen. Da bin ich jeden Morgen.«
»Nick. Southside Café. Sixth Avenue. Brooklyn. Ich werd’s mir merken. Versprochen.«
»Ich vertrau dir«, sagt er und wickelt die Kopfhörer auf. »Aber ich befürchte, nach Shooting Star kannst du da drauf lange suchen.«
»Umso besser. Du hast ihn heute Abend wieder.«
»Mach dir keine Gedanken«, meint er. »Der Akku war noch voll, als ich aus dem Haus bin, also sollte er noch mindestens … eine Stunde reichen. Dieses Ding ist ein echter Dinosaurier.« Er kichert leise. Dann läuft er weiter und winkt mir im Laufen zu, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.
Ich stöpsle den iPod ein; er ist echt uralt. Ich mache mir eine geistige Notiz, ihm einen neuen zu besorgen, wenn ich ihm den alten zurückgebe. Ich scrolle durch seine Titelliste – er hat alles da, von Charlie Parker über die Minutemen bis hin zu Yo La Tengo. Er hat unzählige Playlisten. Ich wähle eine Liste mit dem schlichten Titel »Good Songs«. Und als das Pianosolo am Anfang von »Challenger« von den New Pornographers ertönt, wird mir klar, dass ich da einen guten Fang gemacht habe. Dann kommt was von Andrew Bird, gefolgt von einem spitzenmäßigen Song von Billy Bragg zusammen mit Wilco, den ich schon seit Jahren nicht mehr gehört habe, anschließend läuft »Chicago« von Sufjan Stevens, das ich früher geliebt habe, irgendwann aber nicht mehr hören konnte, weil es mich zu sehr aufwühlte. Jetzt aber passt es gut. Wie ein kühles Bad nach fiebrigen Schweißausbrüchen hilft der Song mir jetzt, die vielen unbeantwortbaren Fragen zu verdrängen, von denen ich mich nicht länger quälen lassen will.
Ich drehe die Lautstärke voll auf, dass es selbst meine lärmerprobten Ohren fast wegbläst. Und zusammen mit dem morgendlichen Lärm von Downtown-Brooklyn – kreischende Metallgitter und dahintuckernde Busse –, ist das schon ordentlich laut. Als daher eine Stimme durch den Lärm dringt, hätte ich sie fast nicht gehört. Aber da ist sie, die Stimme, nach deren Klang ich mich all die Jahre gesehnt habe.
»Adam!«, schreit sie.
Erst kann ich es kaum glauben. Ich stelle den Song von Sufjan aus. Und sehe mich um. Da steht sie, direkt vor mir, ihr Gesicht tränenüberströmt. Sie sagt noch einmal meinen Namen. Für mich klingt es, als wäre es das erste Wort, das ich je gehört habe.
Ich habe losgelassen. Ich habe es wirklich und wahrhaftig getan. Aber da steht
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