Luc - Fesseln der Vergangenheit
zeigte sich auf der Straße. Auf den Feldern arbeitete niemand und keine Kinder spielten zwischen den Häusern. Das Dorf wirkte wie eine Geisterstadt. Sie suchte weiter nach bekannten Gesichtern und erkannte dann Khaled. Der grauhaarige Afghane, dessen Bruder von den Amerikanern getötet worden war und der Luc zu Unrecht beschuldigt hatte, wich ihrem Blick aus und starrte auf den Boden. Im Gegensatz zu Warzais Leuten war auch er unbewaffnet und schien sich unbehaglich zu fühlen. In einiger Entfernung von ihm lehnte der junge Afghane an einer Hauswand, der mit Kalil befreundet war. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er flüchtig und senkte die Handfläche unauffällig. Die Geste kannte sie von Soldaten als Signal für ›alles unter Kontrolle‹ oder ›beruhige dich‹, konnte sie aber in diesem Zusammenhang nicht einordnen.
Merkwürdigerweise konzentrierten sich Warzais Leute nur auf die Dorfmitte. Weder zwischen den Häusern noch zu den Bergen hin konnte sie Wachposten erkennen. Es gab genug Pfade, die aus dem Dorf hinausführten, vielleicht war das ihr Fluchtweg. Sie musste dann nur zurück zur Piste gelangen, um Luc rechtzeitig abzufangen. Das würde schon schwieriger werden. In dem Gelände eigentlich undurchführbar, weil die Pfade in die andere Richtung führten, aber darüber konnte sie später nachdenken. Der strategische Fehler war typisch für Warzais Überheblichkeit, aber deswegen würde sie sich nicht beschweren und vielleicht stieß sie noch auf weitere Versäumnisse.
Ihre Überlegungen endeten, als Warzai und Melton lauter wurden und sie das Gespräch verfolgen konnte.
Melton hatte die Stirn in Falten gelegt. »Das mit dem Jungen könnte ein falsches Signal sein. Du kannst nicht alle Zeugen umbringen.«
Warzai winkte ab. »Sie werden das sagen, was ich ihnen befehle, zu sagen.«
»Na gut. Mir soll es egal sein. Bringt sie zu Hamids Frau und Kind. Dann brauchen wir nur ein Gebäude zu bewachen.«
»Wir reden über Frauen. Wohin sollten die schon gehen? Aber meinetwegen.«
Sie wehrte sich nicht, als einer von Meltons Männern ihr bedeutete zu Hamids Haus zu gehen. Die Amerikaner, die Melton begleitet hatten, hielten ihre Finger am Abzug und ihre Nervosität war deutlich spürbar. Allmählich kam sich Jasmin vor wie auf einem Pulverfass, und zwar einem, bei dem die Lunte bereits brannte.
Die Lage war absolut undurchschaubar, aber Jasmins Vorgehen stand jetzt fest, wenn auch anders als geplant. Sie würde dafür sorgen, dass Hamids Frau und sein Sohn ins Gebirge flohen und sich dort vor Warzai versteckten. Irgendwie musste sie es hinbekommen, dass das Verschwinden der beiden nicht auffiel. Der Rest würde sich finden. Ohne Luc oder ohne sichere Möglichkeit, ihn zu erreichen und von dem geplanten Treffen mit Melton abzubringen, würde sie das Dorf jedenfalls nicht verlassen.
Sie unterdrückte ein zufriedenes Grinsen, als sich einer von Warzais Männern und ein Amerikaner vor dem Haus positionierten. Perfekt, es würde ein Kinderspiel sein, das Gebäude auf der Rückseite zu verlassen.
Innen waren die Fenster zur Dorfmitte hin von Vorhängen bedeckt, so dass Jasmin direkt hinter der Tür stehen blieb, bis sich ihre Augen an das dämmerige Licht gewöhnt hatten.
Der Amerikaner, der sie begleitet hatte, bedachte sie mit einem warnenden Blick. »Tun Sie nichts Unüberlegtes.«
Als ob das am Endergebnis etwas ändern würde. Warzai und Melton wollten sie tot sehen, schlechter konnten ihre Aussichten auch durch einen Fluchtversuch nicht werden. Aber sie verzichtete auf eine Antwort und wartete, bis er sie verlassen hatte. Kaum war die Tür hinter ihm zugeschlagen, stürmte Alima aus dem Wohnbereich auf sie zu und umarmte sie fest.
»Ein Glück, dass dir nichts passiert ist.«
Die Begrüßung steigerte Jasmins Verwirrung ins Uferlose. »Wie geht es dir und Bassam? Ihr müsst unbedingt fliehen. Warzai will … «
Als ob sie nichts gesagt hätte, winkte Alima ab und zog sie am Arm mit in den hinteren Bereich des Hauses. »Beruhige dich und iss etwas.«
Wie konnte ihre Freundin auf Warzais Gegenwart nur so gleichgültig reagieren? Nur die ungewohnt traditionelle Kleidung und die bedeckten Fenster verrieten, dass etwas anders als sonst war. Alima war zwar nervös, aber weder besonders besorgt noch ängstlich.
Hamids Sohn begrüßte Jasmin begeistert und verhinderte zunächst weitere Fragen.
»Setz dich und dann reden wir.«
Eine Diskussion mit Alima war Zeitverschwendung, wenn sie diesen Ton
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