Luc - Fesseln der Vergangenheit
für ihn. Vermutlich hatte er von den Gerüchten über eine amerikanische Ärztin in Hamids Dorf erfahren und sofort vermutet, dass sie es war. Dann war es natürlich naheliegend, sich mit Warzai zu verbünden. Aber würde er wirklich ein solches Bündnis eingehen, nur um sie endgültig auszuschalten? Eigentlich hatte er doch dafür gesorgt, dass sie ihm nicht gefährlich werden konnte. Egal, worum es ihm auch ging, sie durfte nicht zulassen, dass sie ihm oder Warzai in die Hände fiel. Es ging schließlich nicht länger nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um die Menschen, die sie liebte.
Jasmin vergrub ihr Gesicht in den Händen und überlegte, welche Alternativen ihr blieben. Ihr fiel nur die sofortige Flucht aus Kunduz ein. Aber wohin? Und das Risiko war zu groß, dass es bereits zu spät war. Wenn das schiefging und Warzai sie erwischte, brachte sie Hamid in eine fatale Lage. Die Brüder würden niemals zulassen, dass Warzai an ihr ein Exempel statuierte, und genau das würde er tun. Soweit sie die Scharia kannte, würde ihr die öffentliche Steinigung drohen, weil sie alleine unterwegs war und Kontakt zu Männern hatte, mit denen sie kein verwandtschaftliches Verhältnis verband. Großartig. Es käme zum offenen Konflikt zwischen Hamids und Warzais Männern, etwas, das Hamid seit Monaten strikt vermied. Mit Luc hatte Warzai diesen Kampf nicht erzwingen können, jetzt würde er es also mit ihr versuchen. Das durfte nicht geschehen. Hamids Männer waren Warzai nicht nur zahlenmäßig unterlegen, sondern schon deshalb im Nachteil, weil ihnen die Grausamkeit der traditionellen Taliban völlig fremd war. Im entscheidenden Moment würden sie zögern und so letztlich verlieren. Die Angst um die beiden und das Dorf erreichte einen neuen Höhepunkt.
Die Schmerzen waren mörderisch. Fesseln zwangen Luc in eine unnatürliche Haltung, die ihm die Wahl gab, ob er seine Schultergelenke weiter überdehnen wollte oder der Strick sich bis zum Knochen in seine Handgelenke grub. Dennoch konnte er die körperlichen Qualen in gewisser Weise akzeptieren und ausblenden. Die absolute Hilflosigkeit nagte an ihm schlimmer, als es die Schmerzen jemals vermocht hätten. Willkür und grundlose Brutalität trieben ihn an seine Grenzen. Selbst wenn er die Fragen hätte beantworten wollen, wäre ihm kein Wort über seine aufgeplatzten Lippen gekommen. Die Sonne brannte gnadenlos auf ihn herab. Sein Mund war ausgetrocknet und sein Verstand entfernte sich mit jeder Minute weiter von seinem Bewusstsein. Das absehbare Ende war ein schwacher Trost, der unbefriedigte Wunsch nach Rache hinterließ einen bitteren Geschmack. Vermutlich sollte er dankbar sein, dass Warzais Leute zu dämlich waren, ihn länger am Leben zu halten, aber er wollte nicht sterben. Nicht hier, nicht so.
Sie kehrten zurück. Er schaffte es nicht, den Kopf zu heben, spürte aber, dass sie vor ihm stehen blieben. Ein Fußtritt warf ihn auf die Seite, grelle Farben explodierten vor seinen Augen, als er mit dem Kopf auf den Boden traf. Seine Kraft reichte nicht, um sich aus der verkrümmten Position wieder aufzurichten. Die Bewusstlosigkeit würde nicht lange auf sich warten lassen. Fragen in kaum verständlichem Englisch, Farsi und Paschtu prasselten auf ihn ein, die bei ihm lediglich als Kakophonie dumpfer Laute ankamen. Seine Folterknechte interessierte es nicht, dass seine Lebenserwartung ohne Wasser nur noch wenige Stunden betrug.
Er hätte sich in die wartende Schwärze fallen lassen sollen, um das unvermeidliche Ende nicht weiter hinauszuzögern. Außer Hass und Bitterkeit hielt ihn nichts mehr davon ab, jeder Hoffnungsschimmer auf Flucht oder Gegenwehr war erloschen, nur noch das nackte Überleben zählte. Jedes Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Er konnte sich seit Stunden oder schon seit Tagen in Warzais Händen befinden. Ändern konnte er nichts, egal, wie sehr er seine Hilflosigkeit verfluchte oder nach einem Ausweg suchte. Unvermittelt änderte sich die Szene. Frieden umgab ihn, seine Schmerzen waren einem steten Pochen gewichen. Warzais Männer hatten ein neues Opfer gefunden. Mit blutigem Gesicht und ähnlich brutal gefesselt wie zuvor er selbst lag Jay auf dem staubigen Boden. Verzweifelt versuchte Luc, zu seinem Bruder zu gelangen. Aussichtslos. Etwas zog ihn zurück, je stärker er sich anstrengte. Glas zersplitterte.
Mit einem Ruck fuhr Luc hoch und sah orientierungslos in die Dunkelheit. Ein leises Klopfen an der Schlafzimmertür. »Luc? Alles ok?«
Er
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