Luc - Fesseln der Vergangenheit
ändern konnte. Solange eine extreme Ansicht keinem Dritten schadete und auf persönlichen Überzeugungen beruhte, würde Jasmin keine Grundsatzdiskussion starten, sondern einfach ihren Job erledigen.
Gedanklich ging sie ihren Plan ein letztes Mal durch, fand aber keine Schwachstelle und schätzte das Risiko als vertretbar ein. Mit geübten Handgriffen verwandelte sie sich in eine traditionell gekleidete Afghanin, auch wenn der weite Rock, die langärmlige Bluse und das Kopftuch bei Temperaturen, die gefühlt in der Nähe des Siedepunkts lagen, an Folter grenzten. Sorgfältig überprüfte sie, dass Haaransatz und die Arme bis zu den Handgelenken bedeckt waren. Sowohl die Stickereien auf ihrer Bluse, als auch der Verzicht auf die Burka wiesen auf einen gewissen Wohlstand und eine gehobene Stellung ihres nichtexistierenden Ehemannes hin und boten einen zusätzlichen Schutz.
In einem einfachen Bastkorb verstaute sie neben ihrem Notebook auch eine Geldreserve und ihre Pistole samt zweier Reservemagazine. Damit sollte sie ausreichend gerüstet sein.
Statt ihren Range Rover zu benutzen, ging sie die kurze Strecke zu Fuß. Wie immer staunte sie über die Unterschiede. In ihrem Viertel herrschte erkennbarer Wohlstand. Es gab Fußwege, die in gutem Zustand waren, und Palmen lockerten das Straßenbild auf. Das Mehrfamilienhaus mit ihrer Wohnung hätte ebenso gut in Südspanien oder Portugal stehen können. Keine zweihundert Meter weiter zeigte sich das wahre Afghanistan. Behelfsmäßige Läden, kaum mehr als Garagen, in denen die Waren direkt an der Straße angeboten wurden, bestimmten das Bild. Männer standen in Gruppen zusammen oder saßen im Schatten ihrer Häuser. Die Kleidung war eine bunte Mischung aus traditionellen Gewändern und westlichem Einfluss. Jasmin lief weiter, den Blick sittsam gesenkt, bis sie den Obst- und Gemüsestand von Hassan erreichte. Er sah sie und breitete die Arme aus. »Ich werde es nie verstehen, warum du deinen Wagen stehen lässt und meine alte Kiste nimmst. Wie lange brauchst du ihn?«
»Nur für einige Stunden. Woher weißt du, dass ich nicht hier bin, um deine Waren zu kaufen?«
»Weil du dafür viel zu schnell unterwegs bist. Und dass auch noch in dieser Hitze, wo jeder halbwegs schlaue Mensch sich drinnen oder im Schatten aufhält. Komm wenigstens her und lass mich deinen viel zu leeren Korb auffüllen.«
Ehe sie ablehnen konnte, fanden eine Wasserflasche, eine kleine Flasche mit Saft, einige Orangen und eine Tüte Pistazien den Weg in ihren Korb. Obendrauf drapierte Hassan seinen Autoschlüssel. »Vor dem Starten drei Gebete sprechen. Er zickt wieder ordentlich herum.«
»Nur bei dir, Hassan. Ich weiß ihn zu schätzen, und das spürt er.«
»Pfff. Nun geh, ehe ich es mir anders überlege.«
Die Drohung war nicht ernst gemeint, trotzdem zog Jasmin gespielt ängstlich die Schultern hoch. »Ich tue ja, was du sagst. Ich kann und will es mir nicht mit meinem Retter in der Not verderben.«
»Frechheit.« Mit einem Lachen wollte Hassan sich die Autoschlüssel zurückholen, aber Jasmin wich gewandt aus und lief auf den weißen Renault zu, der im Wesentlichen von seinem Lack zusammengehalten wurde. Vor etlichen Monaten hatte sie mit ihrem Range Rover Hassan geholfen, als dieser mit seiner verderblichen Ware liegen geblieben war. Auch danach hatte sie ihm bei mehreren Gelegenheiten ihren Wagen geliehen. Im Gegenzug hatte sie sein Angebot, sich jederzeit seinen Wagen zu leihen, einige Male angenommen. Der Renault war unauffälliger als ihr Range Rover und passte perfekt ins Straßenbild. Zusätzlich hielt Hassan seine Augen und Ohren für sie offen und hatte ihr manches Mal mit Kontakten zu Ärzten geholfen. Ähnlich wie Mahmut und die anderen in der Klinik stellte er keine Fragen, warum sie abwechselnd traditionell und westlich gekleidet war. Es war ihr gelungen, ein Netzwerk aufzubauen, in dem sie und ihre Arbeit akzeptiert wurden. Dies alles aufzugeben, würde nicht leicht sein, ließ sich aber vermutlich nicht vermeiden. Ihre Verfolger waren ihr zu nah gekommen und es ging nicht länger nur um ihr eigenes Leben.
Sie jagte mit dem Renault durch die Straßen und fuhr einen Umweg nach dem anderen, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte. An einer Kreuzung hielt ein Militärjeep neben ihr. Der Beifahrer musterte sie durch das offene Seitenfenster neugierig und tippte grüßend an sein Käppi. Obwohl er wesentlich jünger war, erinnerten seine dunklen, zerzausten Haare und das Bild
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