Lucas
sagte: »Er tut doch niemandem etwas –«
»Nein? Hast du schon mal ein Zigeunerlager gesehen? Ringsum nur Dreck – Hunde, Pferde, geklaute Autos, ganze Lastwagenladungen Altmetall und Teer . . .«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Mach dich nicht
was
?«
»Ich hab nicht gemeint –«
»Du findest also, ich bin
lächerlich
?«
»Nein . . . ich hab nur gemeint . . .«
»Was?«
»Na ja, dass er eben allein ist, kapierst du? Er gehört nicht zu einem herumziehenden Stamm oder so. Er ist noch nicht mal Zigeuner, sondern bloß einfach ein Junge.«
»Mir egal, was er ist – auf jeden Fall bleibt der kleine Bastard nicht hier auf der Insel.«
Ein kurzes Schweigen entstand und ich merkte, dass ich den Atem anhielt. Ich ließ die Luft vorsichtig raus, dann atmete ich wieder ein. Meine Brust schmerzte. Mein Kopf war immer noch benebelt vom Zigarettenqualm. Es fiel mir schwer zu begreifen, was Jamie gesagt hatte. Ich wusste, esbedeutete Ärger, aber ich war mir nicht sicher, wie und warum oder wann und wo. Es war, als würde man den Fernseher anmachen, mitten in eine Soap geraten, die man sonst niemals guckt, und dann versuchen zu kapieren, worum es gerade geht.
Jamie sagte: »Das ist unsere Insel, McCann. Wir leben hier, die meisten von uns sind hier
geboren
. Das ist unser Zuhause . . . man lässt doch keine Scheiße ins eigene Heim, oder? Die hält man sich doch schön vom Leib – oder?«
Dom murmelte etwas Unverständliches.
Jamies Stimme klang leicht verschwommen, als er weiterredete: »Schau mal, wegen dieser Kylie-Geschichte können sie den Zigeuner nicht drankriegen, in den Bau geht er dafür jedenfalls nicht, aber je länger wir die Sache am Kochen halten, desto mehr bleibt an ihm kleben, und je mehr kleben bleibt, desto leichter wird es, ihn loszuwerden. Wenn er erst mal einen Ruf weg hat, glauben die Leute alles. Ein Gerücht hier, ein Gerücht da – du weißt, wie das läuft. Ein Auto wird aufgebrochen . . . Sachen werden geklaut . . . ein Mädchen läuft am Strand lang . . . jemand winkt ihr mit seinem Teil . . . sie meldet es Inspektor Toms . . . so was kommt ja vor.«
»Was dann?«
»Wenn er ein bisschen Gespür hat, haut er ab, ehe die Sache sich zuspitzt.«
»Und wenn nicht?«
»Er wird. Ich hab Lee gesagt, er soll mit ihm reden. Lee kann sehr überzeugend sein, wenn er will.«
»Wie will er ihn finden?«
»Joe Rampton hat ihm für morgen Arbeit angeboten, untenam letzten Feld die Hecken schneiden. Um sechs hört er auf. Joe geht vorher hin und bezahlt ihn, damit der Knabe nicht mehr auf den Hof muss. Er wird also direkt zum Strand runtergehen, den Hohlweg entlang. Da warten wir dann auf ihn.«
»Wir?«
»Ich und Lee – und du natürlich.«
»Ich?«
»Warum nicht?« Seine Stimme klang jetzt spöttisch spitz. »Es wird langsam Zeit, mal zu zeigen, dass du Charakter hast.«
Zehn Minuten später war es endlich so weit. Während Jamie noch auf der Bettkante saß und ein paar Mückenstiche am Bein kratzte, wühlte Dominic nach einem sauberen Hemd. Dann zogen sie ab. Ich horchte, wie sie die Treppe hinunterstampften, in die Küche gingen und schließlich zurück auf den Flur. Ich hörte, wie Deefers Schwanz gegen die Wand schlug, als Dominic ihm etwas sagte. Und dann hörte ich, wie die Haustür auf- und wieder zuging. Ich wartete, bis ich ihre Schritte über den Hof knirschen hörte, dann rutschte ich unterm Bett vor, wischte mich von oben bis unten ab und rannte ins Badezimmer.
Draußen hörte ich Jamie den Jeep starten, der Motor heulte auf. Dann schaltete er die Musikanlage an und schleuderte den Wagen mit durchdrehenden Rädern herum, dass der Kies vom Hof auf den Rasen spritzte. Und in einem dröhnenden Wirbel stampfender Bassbeats preschte er die Zufahrt hinauf.
Ich saß da und hielt den Kopf in meinen Händen.
Dieser Sommer wurde immer mehr zur Hölle.
Zehn
W enn es ans Glauben geht, halte ich mich für ziemlich vernunftorientiert. Ich glaube nicht an Gott und ich glaube auch nicht an den Teufel. Ich glaube nicht an Superman oder den Weihnachtsmann und ich glaube auch nicht, dass die Figuren in Seifenopern real sind. Ich glaube nicht dran, weil es keinen Sinn macht. Aber ich kann akzeptieren, dass andere Menschen es tun, und wenn Gott eines Tages aufkreuzen würde, fände ich es toll, mit ihm zusammenzusitzen und eine Runde zu reden – aber ich halte nicht den Atem an vor Erwartung.
Religion, Astrologie, Ufos, Kornkreise, Geister, Löffel verbiegen,
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