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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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Wunderheiler – nichts davon ergibt einen Sinn und deshalb glaube ich nicht dran. Ich weiß, dass seltsame Dinge geschehen – wie dass das Telefon gerade in dem Moment klingelt, wenn du an jemanden denkst, und genau dieser Mensch ist auf einmal am Apparat   –, aber das bedeutet gar nichts. Es ist einfach Zufall. Wie oft denkt man an jemanden und es klingelt
nicht
? Ja, seltsame Dinge geschehen. Aber die Welt ist groß und alles Mögliche passiert – es wäre seltsam, wenn
nicht
ab und zu seltsame Dinge passierten.
    Die Krux ist, auch wenn
ich
an all diese Dinge nicht glaube, bedeutet das noch lange nicht, dass sie nicht an mich glauben. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber ich weiß, wie man sich dabei fühlt. Denn als ich an jenem Nachmittag, nachdem Jamie und Dominic weg waren, die Zufahrt entlangging, wusste ich ohne auch nur den Schatten eines Zweifels, dass Lucas an der schmalen Bucht auf mich wartete. Ich
wusste
es. Das Wissen war einfach da, in meinem Kopf. Es war schon ein Teil von mir. Ich stellte ihn mir nicht vor,
er war da
– es war wie eine Erinnerung an die Zukunft.
    Das ergab keinen Sinn.
    Woher wusste er, dass ich nach ihm Ausschau hielt?
    Woher wusste er, dass ich kommen würde?
    Woher wusste ich, dass er da war?
    Ich weiß es nicht.
    Ich weiß es auch heute noch nicht.
    Aber ich irrte mich nicht.
    Er saß still am Ufer, lehnte sich auf einen Ellenbogen zurück und kaute auf einem Grashalm. Die Bucht lag fast ruhig da. Die Spiegelung der Sonne ließ die Oberfläche flimmern und ein Schwanenpaar trieb mit gereckten Hälsen regungslos im Wasser, die Augen auf Lucas fixiert. Ich blieb einen Augenblick stehen, um alles aufzunehmen. Die milchige Luft, die gefleckten Farben, das gesprenkelte Licht . . . es sah aus wie die Landschaft in einem impressionistischen Bild.
    Als ich den Weg weiterging, zerzauste die nachmittägliche Brise mein Haar.
    Trotz allem fühlte ich mich überraschend ruhig. Es war ein eigenartiges Gefühl von Ruhe, ein bisschen flau und emotionslosund normalerweise hätte mich das beunruhigt. Ich hätte wissen wollen,
warum
ich nichts empfand.
Warum
war ich nicht nervös, glücklich, traurig, ängstlich, wütend, aufgeregt . . . was war mit mir los? War ich krank? War es mir egal? Betrog ich mich selbst? Ich hätte mir Sorgen gemacht und das hätte mich noch weiter runtergezogen. Aber an dem Nachmittag verschwendete ich keinen Gedanken daran. Es schien überhaupt keine Rolle zu spielen. Es war fast so, als wäre ich schon einmal an diesem Ort gewesen, und was auch immer mich erwartete, war irgendwie bereits geschehen, deshalb gab es keinen
Grund
, aufgeregt zu sein. Es lag jenseits aller Aufregung.
    Lucas schaute auf, als ich näher kam. In seinen Augen zeigte sich kurz eine tief sitzende Einsamkeit – ein lebenslanges Ausgeschlossensein   –, aber als er mich erkannte, nahm er den Grashalm aus dem Mund und ein warmherziges Lächeln überzog sein Gesicht.
    »Du siehst nett aus«, sagte er.
    Meine Knie wurden weich, ich wäre fast hingefallen. Mir fiel nichts ein, was ich antworten könnte, also stand ich nur da und sah ihn an. Sein Haar war feucht und Schweißflecken zeichneten sich dunkel an den Achseln seines T-Shirts ab. Er steckte den Grashalm wieder in den Mund und wandte seinen Blick zurück zu den Schwänen.
    Ich setzte mich neben ihn.
    Eine Weile sprachen wir nichts.
    Das Wasser der Bucht war dunkel, aber klar, wie flüssige Bronze. Das Sonnenlicht brach sich darin und brachte schwarz gewordenes Wattholz und flache Steine, die auf demSandboden lagen, zum Vorschein. In den Untiefen jagten kleine Fische an der Oberfläche nach Fliegen. Leise ploppende Laute betonten die Stille.
    Lucas drehte sich eine Zigarette. Als sie fertig war, saß er da und schaute sie eine Weile an, rollte sie zwischen den Fingern, betrachtete ihre Form, dann hob er die Hand und steckte sie sich hinters Ohr. Müßig kratzte er seine Narbe am Handgelenk.
    »Ich wollte mich nicht einschmeicheln«, sagte er.
    »Wie bitte?«
    »Mit dem, was ich gesagt habe.«
    »Wann?«
    »Gerade eben – als ich sagte, du würdest nett aussehen. Ich habe nichts anderes damit gemeint . . . nur, dass du nett aussiehst.«
    »Ich weiß – ist schon okay. Danke.«
    Er lächelte. »Gern geschehen.« Er zog die Zigarette hinter seinem Ohr vor und zündete sie an.
    Ich mag Rauchen eigentlich nicht. Weder den Geruch noch die Art, wie die Leute dann wirken. Sie sehen blöde aus. Und die Tatsache, dass sie glauben,

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