Lucas
Rollen Zeichenpapier und Tierschutzbund-Plakate ragten oben heraus. Auf dem Hof hinter ihm krochen Tausende fliegender Ameisen über die Wände und warfen sich in den Himmel, um sogleich von hungrigen Möwen und Krähen geschnappt zu werden, die in der Luft kreisten und plötzlich herabschossen. Ich beobachtete sie und fragte mich, woran die Ameisen merkten, dass dies der richtige Tag war zum Fliegen. War es die Hitze? Das Licht? Die Feuchtigkeit? Woher
wussten
sie es? Und waswürde passieren, wenn sie den ganzen Sommer warteten und der richtige Tag nie käme?
Simon räusperte sich.
»Entschuldigung«, sagte ich und sah ihn an. »Ich war gerade ganz weit weg.«
Dann trat ich zurück und wir gingen hinein.
»Ist dir nicht zu warm in dem Ding?«, fragte ich und blickte auf seinen Mantel.
»Nicht wirklich«, murmelte er.
Ich führte ihn in die Küche.
»Magst du was essen?«
»Nein, danke.«
»Stört es dich, wenn ich esse? Ich verhungere nämlich.«
Und dann machte ich mir eine Schüssel Salat, nahm ein bisschen Brot, dazu etwas kaltes Huhn, setzte mich an den Tisch und futterte los. Simon stand da und beobachtete mich. »Bitht du thicher, dath du nicht doch wath willtht?«, fragte ich mit dem Mund voll Brot.
»Nein, danke.«
»Mutht du thelbth withen.«
Den Rest des Abends verbrachte ich damit, weiter ekelhaft zu sein. Armer Simon, er versuchte alles – zeigte mir seine Plakatskizzen, entwarf einen Plan für den Stand, redete mit mir darüber, was wir auf dem Fest verkaufen sollten und was nicht –, aber ich war nicht bei der Sache. Jedes Mal, wenn er versuchte mich einzubeziehen, sagte ich entweder etwas Blödes oder gar nichts.
Ich war wütend, nehme ich an – wütend, verwirrt und besorgt.Besorgt um Lucas, verwirrt von Lucas und wütend über Lucas . . . Ich weiß, es war nicht fair, alles an Simon auszulassen, und ich
wollte
das ja eigentlich auch gar nicht, aber ich tat es trotzdem. So wie ich mich benahm, hätte ich mir genauso gut ein Spruchband mit der Aufschrift
Hau ab!
um den Hals hängen können.
Nach ungefähr einer Stunde hatte Simon es endlich begriffen und packte die Festvorbereitungen wieder in seinen Rucksack.
»Den Rest mach ich später fertig«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln.
»Gut«, sagte ich.
Nach allem, was ich ihm angetan hatte, war ich zuversichtlich, er würde Tschüs sagen und auf kürzestem Wege in Richtung Haustür verschwinden. Deshalb war es fast ein Schock für mich, dass er nicht ging. Stattdessen ließ er seinen Rucksack auf den Fußboden plumpsen und stand da, den Blick auf mich gerichtet, ein bisschen schüchtern grinsend und von einem Fuß auf den andern tretend. Ich starrte ihn an und dachte: Geh nach Hause, Simon . . . bitte . . . es ist besser für dich . . . geh einfach heim,
jetzt
, bevor ich noch unleidlicher werde . . .
Aber er hatte nicht die Absicht zu gehen.
Ich hätte es wohl als Kompliment verstehen sollen, aber ich war nicht in der Stimmung für Komplimente. Ich war für überhaupt nichts in Stimmung.
Der Rest des Abends wurde immer schlimmer.
Wir saßen in gelangweiltem Schweigen vor dem Fernseher. Ich schickte ihn hinaus, er solle mir Tee machen. Ichzeigte ihm Fotos von Mum und schnauzte ihn an, als er mich nach einem ihrer Gedichte fragte. Ich ließ ihn Musik hören, von der ich wusste, dass sie ihm nicht gefiel. Und als wir hinausgingen, um einen Spaziergang im Dunkeln zu machen, und er versuchte nach meiner Hand zu fassen, schob ich ihn weg.
Ich war ein Alptraum von einem Mädchen.
Ich hasste mich für das, was ich tat, aber ich konnte nichts dagegen machen. Es war, als säße jemand anderes in mir und kontrollierte jede meiner Handlungen. Jemand, dem alles scheißegal war. Ich weiß nicht, wohin sich mein wahres Ich verdrückt hatte.
Ab und zu hörte ich von irgendwoher eine Stimme rufen, die mich inständig bat, darüber nachzudenken, was ich tat, aber sie war zu weit weg, um einen Einfluss zu haben. Sie war viel zu schwach. Ich brauchte ihr nur zu sagen, halt die Klappe, schon zog sie den Schwanz ein und rannte zurück in ihr Loch.
Je abscheulicher ich mich benahm, desto demütiger wurde Simon – bedankte sich, entschuldigte sich, war
nett
zu mir . . . und ich akzeptierte das alles gedankenlos. Es war fast so, als ob ich ausprobieren wollte, wie weit ich gehen konnte mit meinen Quälereien, wie sehr ich ihn hin und her schubsen konnte, ehe er einschnappte.
Gott . . . ich war schrecklich.
Wenn ich heute darüber
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