Lucas
nichts Schlimmeres, als zu merken, du hast etwas Schreckliches getan, und zu wissen, du kannst nichts dran ändern. Ich hatte mich Simon gegenüber grauenvoll benommen. Ich hatte ihn erniedrigt, von oben herab behandelt, ich hatte ihm seine Freundschaft ins Gesicht geschleudert. Gemeiner hätte ich überhaupt nicht sein können. Und es war völlig gleichgültig, wie sehr ich es bereute, wie sehr ich mich entschuldigte, nichts konnte an der Tatsache etwas ändern, dass ich mich so benommen hatte. Meine Grausamkeit war unauslöschlich. Ich war so gewesen. Es war geschehen. Es gab kein Zurück. Kein Zurück . . .
Verflucht.
Ich riss die Badezimmertür auf und marschierte hinein. Plötzlich sah ich Dominic und blieb stehen. Nur mit grauen Boxershorts bekleidet saß er auf dem Klodeckel und hielt seinen Kopf in den Händen. Meine Wut verwandelte sich in Verlegenheit und ich stieß einen leisen Schrei aus vor Überraschung. Dominic schaute auf. Seine Augen waren verheult und blutunterlaufen.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass du drin bist.«
»Schon gut«, sagte er. »Ich sitz ja nur hier.«
Ich drehte mich um und wollte gehen.
»Cait?«
Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht wieder um.
»Du musst nicht gehen«, sagte er. »Ich bin fertig. Ich wollte sowieso gerade raus.«
Es tat weh, die Leblosigkeit seiner Stimme zu hören. Siezerrte an mir, denn sie erinnerte mich daran, was er war und was wir gewesen waren – Bruder und Schwester. Ich versuchte seiner Stimme zu widerstehen, ich wollte ihr widerstehen, aber ich konnte nicht. Ich drehte mich um. Er hatte ein Sweatshirt mit Kapuze übergezogen und stand mit dem Rücken zum Waschbecken. Sein Kopf war nach vorn gebeugt, er spielte mit der Kapuzenkordel.
Dominic konnte mich nicht ansehen.
Ich seufzte tief. »Ist schon gut«, sagte ich. »Ich beiß dich ja nicht.«
Er schien mich nicht zu hören.
Ich trat ein Stück näher. »Dom?«
Erschöpft hob er den Blick. Sein Gesicht war ein einziges Bild der Verwirrung: voller Angst, Schmerz, Bitterkeit, Stolz . . . Es war das Gesicht eines Kindes, das kämpft, um in dem Körper eines jungen Mannes zurechtzukommen. Oder war es andersherum?
Er wischte sich übers Gesicht. »Es ist verflucht schwer, nicht?«
»Yep.«
Dann standen wir in einer lastenden Stille. Ich in meinem Nachthemd, Dominic in Sweatshirt und Shorts, beide verzweifelt bemüht, unsere Probleme auszuschütten, doch keiner willens oder fähig, den Anfang zu machen. Dominic senkte den Blick und starrte zu Boden. Ich schaute auf das vertraute Badezimmer-Wirrwarr. Staubige Flaschen auf staubigen Regalen, Zahnbürsten, ein rostiges Radio, wuchernde Geranien in Übertöpfen, ein Keramikfisch, ein Gummikrokodil, eine Plastikente, ein Schwamm in Schafform . . . unddann fiel mein Blick plötzlich auf ein gerahmtes Bild, das über dem Spülkasten hing. Es hängt dort, solange ich denken kann. Es zeigt einen Elch, der aus einem schillernd blauen See trinkt, und der See ist umgeben von Bergen und dunklen Kiefern. Es ist wirklich kein schlechtes Bild, doch irgendwas ist damit, das mich seit jeher stört. Der Elch hält den schweren Kopf nach unten gesenkt und taucht sein Maul gerade in die von ringförmigen Wellen gekräuselte Wasseroberfläche. Und jedes Mal habe ich Angst, dass sich etwas hinter ihm anschleicht, während er nicht guckt, und über ihn herfällt, ein Wolf, ein Grizzlybär oder sonst was. Ich weiß, es ist albern. Ich weiß, es ist nur ein Bild, aber immer wenn ich ins Bad gehe, muss ich dem Elch sagen, er soll aufpassen. »Nimm dich vor den Grizzlybären und Wölfen in Acht«, sage ich. Es ist wie ein Gebet. Ich muss es nicht laut sagen, ein Flüstern reicht schon oder auch nur, die Wörter mit den Lippen zu bilden. Ich
weiß
, es macht keinen Sinn. Ich weiß, es ist idiotisch. Aber das ist mir ziemlich egal. Meiner Meinung nach ist es ein kleiner Preis, sich wie ein Idiot zu fühlen, wenn es darum geht, das Leben eines Elchs zu retten. Selbst dann, wenn es nur der Elch in einem Bild ist.
Ich sah wieder Dominic an.
Und er sah mich an.
Der Augenblick war vorüber.
Wir wussten es beide. Wenn einer von uns wirklich etwas hatte sagen wollen, jetzt war es zu spät dafür. Wir hatten Zeit gehabt, nachzudenken oder nicht nachzudenken, und beide hatten wir es für zu schwierig gehalten. Es stand zu viel auf dem Spiel. Zu viele Leichen im Keller.
Dominic räusperte sich. »Tja . . .«, sagte er, »ich seh dann mal zu, dass ich in
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