Lucas
über sein Gesicht und er trat einen Schritt zurück. »Was ist los?«, fragte ich.
»Cait . . .«
»Was ist?«
Ohne etwas zu sagen schaute er mir in die Augen. Ich schaute zurück. Er
musste
nichts sagen, sein Blick sagte alles. Ich wusste, was er meinte.
Ich trat zurück und kam mir ein bisschen blöd vor. »Tut mir Leid.«
Lucas grinste. »Mir auch.«
»Ist ein ziemlich kurioser Tag gewesen, würde mein Vater sagen.«
»Besser kann man’s nicht ausdrücken.«
Einen Moment hatte ich das Gefühl, als wäre ich schon mal hier gewesen . . . nur dass es nicht hier war, sondern irgendwo anders. Und Lucas war jemand anderes, jemand, der mir vertraut war, und wir unterhielten uns über Geheimnisse . . .
Ich bin kein Kind.
»Cait?«, sagte Lucas.
Ich sah ihn an. »Ich bin kein . . .«
»Du bist kein was?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich hab nur gerade . . . ach, nichts.« Ich reckte meinen Hals und schaute hinauf in den Himmel, dann holte ich tief Luft und sah zu Boden. Das Licht wurde allmählich grau und die Abendschatten länger. Seltsamerweise wirkte der Wald aber heller als noch am Nachmittag.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich Lucas.
»Inwiefern?«
»Ach komm – du weißt
genau
, was ich meine. Jamie Tait vergisst doch nicht, was du ihm angetan hast.«
»Ich weiß.«
»Es werden eine Menge Leute nach dir suchen.«
»Ich weiß.«
Ich sah ihn an. »Du gehst, nicht wahr?«
»Das hatte ich immer vor.«
»Wann?«
»Sonntag wahrscheinlich.«
»Sonntag?«
Er zuckte die Schultern. »Bis jetzt habe ich verhindert, dass mir jemand die Knochen bricht. Also könnte ich es vielleicht noch ein paar Tage durchhalten, glaube ich. Außerdem muss ich noch auf ein Sommerfest . . .«
Ich lachte. »Und neue Boots kaufen.«
»Ich dachte, die kaufst du.«
»Ich weiß deine Größe nicht.«
Wir lächelten einander an. Es war ein eigenartiger Moment mit allen möglichen unausgesprochenen Dingen, die unter der Oberfläche blubberten, und nach einer Weile schauten wir beide weg.
Genau das waren wir, merke ich jetzt. Wir – ein Moment. Das war es, was wir waren: ein Moment. Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne alles, was außerhalb der Gegenwart lag. Es schien fast so, als ob wir zusammen andere Menschen waren, Menschen, die überhaupt nur in der Gegenwart existierten. Und auf eine ganz eigene Weise war das ideal. Eswäre nur schön gewesen, ab und zu auch mal woanders zu sein.
»Du gehst jetzt besser«, sagte Lucas. »Dein Bruder fragt sich sonst noch, was hier läuft.«
»Soll er doch. Was machst du in den nächsten Tagen?«
»Mich verstecken, hauptsächlich.«
»Gut.«
»Ich weiß noch nicht, um wie viel Uhr ich am Samstag da sein werde –«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin den ganzen Tag dort.«
Er schaute mich an. »Sei nicht zu streng mit deinem Bruder. Und versuch dir keine Sorgen zu machen. Ich werde immer in der Nähe sein.«
Ehe ich fragen konnte, was er damit meinte, kam er auf mich zu und küsste mich auf die Wange, dann drehte er sich um und verschwand in Richtung Wald. Ich war so überrascht, dass ich mich einen Moment nicht rühren konnte. Während ich zusah, wie er leise mit dem Dunkel des Waldes verschwamm, berührte ich meine Wange und legte die Hand auf meinen Mund.
Sein Kuss schmeckte nach süßem Tabak.
Vierzehn
I ch bin seit dem Tag nie mehr auf Joe Ramptons Weg gewesen und ich glaube auch nicht, dass ich je wieder hingehen werde. Das ist schade, denn ich fand es früher immer schön dort. Die grünen Hecken, die warmen Sommerschatten, der Duft nach Mais und Geißblatt . . . es war ein ganz besonderer Ort.
Jetzt ist es nur noch eine schreckliche Erinnerung.
Ich versuche nicht zu viel drüber nachzudenken, aber manchmal fällt es nicht leicht, besonders nachts, wenn die Luft schwer und heiß ist oder wenn ich die Gerüche bestimmter Dinge wie Whiskey oder verschwitztes Aftershave wahrnehme, oder manchmal auch, wenn ich nur pinkeln muss. Plötzlich kommt alles zurück – die betrunkene Drohung, die Gewalt, die Hitze, das lähmende Bewusstsein der Angst . . . Bestimmt hätte es mir geholfen, mit jemandem drüber zu reden. Es war, wie Dad meinte: Ich hätte mich deshalb zwar nicht besser gefühlt, aber wenigstens hätte es dem Schmerz ein wenig Leben gegönnt. Vielleicht ist das der Grund, warum ich es jetzt erzähle: um den Schmerz zu mildern . . . oder vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Die Dinge haben sichverändert. Mein Standpunkt hat sich
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