Lucas
verändert. Ich bin älter, das Leben ist weitergegangen . . .
Alles ist anders.
Damals schien es nicht viel Sinn zu machen, drüber zu reden. Es war vorbei und erledigt. Drüber zu reden hätte nichts verändert. Es war wie schon einmal – ich wusste, ich sollte mit jemandem drüber reden, aber ich hatte keine Ahnung, mit wem. Wenn ich es Dad erzählt hätte, wäre er durchgedreht und womöglich noch zum Mörder geworden, und das hätte keinem von uns geholfen. Und wenn ich es der Polizei erzählt hätte . . . Tja, was gab es da eigentlich zu erzählen? Was war
wirklich
passiert? Nicht viel. Ich war ziemlich grob angefasst worden, hatte einen Schlag eingesteckt, war beschimpft und bedroht worden . . . aber was er vorgehabt hatte, war nicht zu beweisen. Außerdem hätte ich erklären müssen, was ich dort eigentlich zu suchen hatte und was nachher geschah, und dann wäre Lucas mit reingezogen worden, dabei hatte er doch schon genug Schwierigkeiten . . .
Es war sinnlos.
Natürlich kann man sagen, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich weniger egoistisch gedacht hätte. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen.
Als ich am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, war ich überrascht, Dad und Dominic zusammen am Küchentisch sitzen zu sehen. Es gab kein gegenseitiges Stirnrunzeln und keinen Streit, sie saßen nur einfach still da, rauchten Zigaretten und tranken heißen Kaffee, der aus den Bechern in ihren Händen dampfte. Die Schwellung an Doms Kopf war ein bisschenzurückgegangen, aber der Bluterguss hatte sich über das ganze Gesicht ausgedehnt. Von unterm Auge bis hinterm Ohr zeigte sich die Haut in einer scheußlichen Farbmischung aus Violett, Schwarz, Blutrot und Blau.
Dad lächelte. »Hübsch, nicht?«
Natürlich ahnte er nicht, dass ich Bescheid wusste, deshalb versuchte ich so zu wirken, als wäre ich schwer geschockt. Das fiel mir nicht schwer – ich
war
geschockt. Nicht vom Bluterguss natürlich, sondern einfach weil Dad so verdammt glücklich darüber wirkte. Am Abend vorher war Dominic, wie Lucas vorgeschlagen hatte, als Erster ins Haus gegangen, ein paar Minuten später war ich dann hinterhergeschlichen. Da hatte das Zetern schon angefangen. Als ich nach oben ging, um zu duschen und mich umzuziehen, hörte ich, wie Dad Dominic im vorderen Zimmer anschrie. Es ging stundenlang so weiter – Schreien, Fluchen, Türenschlagen, Tritte gegen die Wand. Sie waren noch immer zugange, als ich mir einen Kakao machte und ins Bett ging.
Und jetzt saßen sie hier, ganz eitel Freude und Sonnenschein.
Das verwirrte mich.
»Was ist passiert?«, fragte ich und setzte ein möglichst verdutztes Gesicht auf.
Dad lächelte wieder. »Jemand hat ihm ein bisschen Verstand in den Kopf geprügelt.«
Ich sah Dom an. Ein verlegenes Grinsen überzog sein Gesicht.
»Es ist nichts«, sagte er. »Sieht schlimmer aus, als es ist. Ich erzähl’s dir später. Willst du Kaffee?«
Nach kurzem Zögern setzte ich mich zu ihnen an den Tisch. Während Dom Kaffee einschenkte, warf er mir kurz einen Blick zu und nickte heimlich mit dem Kopf. Ich nahm es als Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er hatte die Dinge mit Dad geklärt, er hatte erfolgreich gelogen. In Wahrheit war er ohnmächtig geschlagen und ich fast vergewaltigt worden – aber wir waren noch mal davongekommen. Ja, alles war gut.
Ich schlürfte meinen Kaffee. Er schmeckte bitter.
Dad sagte: »Entschuldige, dass wir gestern so laut waren. Wir mussten ein paar Dinge gerade rücken – und dabei ist es ein bisschen heiß hergegangen.«
»Jetzt scheint jedenfalls wieder alles in Ordnung zu sein«, stellte ich fest.
Er schaute Dom an. »Ich glaub zumindest, wir kriegen’s hin.«
»Na, dann ist ja alles gut.« Ich wandte mich Dom zu. »Du hast also eine Erleuchtung gehabt, ja?«
Er schien sich unwohl zu fühlen. »So würde ich das nicht nennen.«
»Wie
würdest
du es denn nennen?«
»Hör mal«, sagte er. »Es tut mir Leid, wenn ich mich wie ein Arschloch benommen habe.«
»Wie bitte?«
Sein Gesicht war ernst. »Ja – es tut mir Leid.«
Ich wusste, er meinte es wirklich so, aber in dem Moment war mir das ziemlich egal. In meinen Augen änderte das überhaupt nichts, ob es ihm Leid tat. Es machte nicht ungeschehen, was ich empfand und was ich durchgemacht hatte. Das war unmöglich. Jetzt und für immer. Er hatte mich verletzt. Er hatte es vielleicht nicht gewollt und es wäre vielleichtauch ohne ihn passiert, aber er war mein Bruder.
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