Lucas
Und Brüder haben nicht zu verletzen.
Ich stand auf und wandte mich zum Gehen.
»Warte, Cait«, sagte Dominic. »Nur einen Augenblick –«
»Ich muss los«, sagte ich. »Wir sehen uns später.«
Als ich zur Tür hinausging, hörte ich, wie Dad meinen Namen rief. Es lag eine leise Sorge in seiner Stimme und er tat mir auf einmal Leid. Endlich bekommt er seinen Sohn zurück . . . alles ist gut . . . und dann spinnt auf einmal seine zickige Tochter rum. Ich wär fast umgedreht und zurückgegangen, aber ich wusste, wenn ich das tat, würde mir plötzlich auch Dominic Leid tun und dann wäre ich versucht ihm zu verzeihen, doch ich
wollte
ihm nicht verzeihen.
Also rief ich nach Deefer, stapfte die Zufahrt hinunter und stürmte so lange verbissen weiter, bis die Wut wieder richtig kochte.
Das Dumme war nur, sobald der Wald in Sicht kam, schlug die Wut in ein Zittern um und ich schaffte es nicht, mich zu zwingen weiterzugehen. Ich versuchte es, aber jedes Mal, wenn ich die Lücke in der Hecke erreichte, wurden mir die Knie weich und ich konnte nicht mehr vernünftig atmen. Wenn ich umkehrte, ging es mir wieder gut. Aber ich
wollte
nicht umkehren. Am Ende setzte ich mich eine knappe Stunde lang auf ein verrottetes Stück Holz, während Deefer mich anstarrte und winselte.
Der Rest des Tages verging relativ friedlich. Dad kam mit seinem Schreiben voran, Dominic blieb in seinem Zimmer und ich trödelte herum und versuchte mich wieder wie immer zufühlen. Erst glaubte ich, es wäre unmöglich. Zu viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Es ging um Lucas, Jamie, Simon, Bill, Dominic, Dad. Es ging um ein Chaos an Gefühlen wie Verlangen, Hass, Schmerz, Ignoranz und Zweifel; es gab Erinnerungen an die Vergangenheit und Ängste vor der Zukunft – und dann war da auch noch ich, Caitlin McCann. Was war ich? Was tat ich? Wohin entwickelte ich mich? War ich unschuldig? Schuldig? Dumm? Leichtgläubig? War ich ehrlich zu mir selbst . . .?
All diese Fragen hingen miteinander zusammen, aber gleichzeitig passten sie auch wieder gar nicht zueinander. Sie waren nicht synchron. Es war wie bei einem Puzzle, bei dem man die Einzelteile richtig aneinander zu legen versucht, um schließlich ein großes Bild herauszubekommen. Alle Teile sind da, aber solange man sie nicht in die richtige Ordnung bringt, weiß man nicht, was das Bild darstellen soll. Das war es also, was ich versuchte – die Teile in die richtige Ordnung zu bringen.
Während der Nachmittag zäh dahinschlich, schob ich die Teile in meinem Kopf immer wieder hin und her und versuchte sie zusammenzubringen. Aber anders als bei einem normalen Puzzle blieben die Teile nicht liegen. Sie verschoben sich ständig und änderten sogar ihre Form. Ich arbeitete mit drei oder vier Steinen, suchte sie aus, legte sie zusammen und schob sie dann auf die Seite, um mich anderen Steinen zu widmen. Aber bis ich
die
ausgewählt hatte, passten die ersten Teile schon wieder nicht mehr. Sie waren etwas anderes geworden. Und wenn ich von neuem anfing mit
ihnen
zu arbeiten, veränderten sich die andern.
Es machte mich rasend.
Ich schob sie trotzdem weiter und am frühen Abend war ich ziemlich sicher, dass ich das Ganze so weit hingekriegt hatte, wie es nur ging. Es war immer noch alles ein bisschen wackelig, ein bisschen unscharf, aber sämtliche Teile lagen zumindest an Ort und Stelle und ich sah endlich das ganze Bild. Das Problem war nur, dass es ein abstraktes Werk zu sein schien – egal, wie genau ich es betrachtete, ich hatte einfach keine Idee, was es darstellen sollte.
Später an jenem Abend, so gegen zehn, kam Lenny Craine vorbei. Ich war gerade in der Badewanne, als er vorfuhr. Das Radio spielte leise und das Badezimmer dampfte. Ich hörte, wie Dad die Tür öffnete, ich hörte sie ins Wohnzimmer gehen und dann hörte ich Dominic zu ihnen nach unten gehen. Das Wohnzimmer liegt genau unter dem Bad, deshalb stellte ich das Radio ab und lag ganz still in der Hoffnung, hören zu können, worüber sie sprachen. Aber das Einzige, was ich vernahm, war das Gläseranstoßen und ein schwaches, gedämpftes Murmeln durch die Deckenbretter.
Ich stellte das Radio wieder an und senkte meinen Kopf unter Wasser.
Vergiss es, sagte ich mir. Ignorier sie. Warum machst du dir Gedanken, worüber sie reden? Wahrscheinlich ist sowieso nichts. Lenny ist einfach nur auf ein Glas vorbeigekommen . . . vielleicht auch auf ein paar Gläser . . . ein
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