Luegen auf Albanisch
anderes Land ziehen.«
»Verlust ist Verlust«, sagte Mister Stanley.
Jetzt war der Moment für Dunias Aufmunterungsrede von wegen halb volles Glas gekommen, aber wie sehr sich Lula auch bemühte, sie konnte nicht erkennen, wie voll Mister Stanleys Glas noch war. Er sagte: »Nachdem sie aus dem Haus sind, ist es nie wieder dasselbe. Es soll auch gar nicht dasselbe sein. Dann hat man ein Problem. Die Kinder, die nie von zu Hause fortgehen und sich verwandeln in … Keine Ahnung, in was sie sich verwandeln.«
Lula sagte: »Sie verwandeln sich in Kannibalen, die Leichenteile im Tiefkühlschrank aufbewahren.« Sie hielt inne. Mister Stanley sah sie merkwürdig an. »Das ist in Albanien passiert. Hier auch. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.«
»Fernsehen.« Mister Stanley verzog das Gesicht. »Die Sache ist, dass dich niemand vorbereitet. Leeres Nest? Allein das Wort – Nest – ist ein Witz. Leere Herzen und Seelen trifft es eher. Deshalb macht es dich verwundbar. Ich weiß, Sie halten uns nicht für eine richtige Familie, Zeke und mich …«
»Familie ist Familie«, sagte Lula.
»Aber was ich Ihnen erzählen will, Lula, und was Sie herausfinden werden, wenn Sie selber Kinder haben, ist, dass ich jedes Mal, wenn ich mein Kind sehe, jeden Augenblick im Leben dieses Kindes sehe, jedes Stadium seines Lebens, das Baby, das Kleinkind, das ältere Kind. Außerdem sehe ich mein eigenes Leben …«
Lula wollte sich die Ohren zuhalten. Je größer ihr Mitleid mit Mister Stanley wurde, desto schwerer würde es ihr fallen, ihn zu verlassen. Lula war auch allein, aber sie hatte immer noch die Chance, jemanden zu finden, mit dem sie diese Gondelfahrt machen konnte. Wie jämmerlich, sich damit zu trösten, das mögliche Strahlen ihrer Zukunft gegen die sichere Düsternis abzuwägen, die auf Mister Stanley zukam.
Er sagte: »Dieser College-Aufnahmeprozess ist eine üble Verschwörung, einem die letzten Monate mit seinem Kind zu vergällen. Selbst wenn man weiß, dass es keine Rolle spielt, wird man hineingesogen.«
Wenigstens sagte Mister Stanley wieder einem und man , statt ich und mich . Lula drehte halbgare Spaghetti um ihre Gabel und schmeckte das Nachbrennen chemischer Tomaten, herb, aber mit tröstlicher Ähnlichkeit zu den Pizzen, die sie für Zeke machte. Sie hoffte, dass Zeke Spaß hatte.
Woher kam diese klirrende Musikbox-Melodie? Lula starrte auf ihre Handtasche, als haue darin ein kleines Nagetier auf einem Spielzeugklavier herum.
»Gehen Sie ran«, sagte Mister Stanley.
»Ich weiß nicht, wie«, sagte Lula.
»Drücken Sie auf den verdammten grünen Knopf am Handy!«, sagte Mister Stanley.
Zeke sagte: »Ich bin’s. Zeke. Sag meinem Dad, er soll mich abholen.«
Lula konnte sich nicht erinnern, dass das College so weit vom Motel entfernt lag. Vielleicht kam es ihr nur so weit vor, jede Meile verlängert durch ihr mangelndes Vertrauen in Mister Stanleys Fahrkünste und ihre panische Angst davor, nie den Eingang zum Speisesaal zu finden, an dem Zeke auf sie warten wollte.
»Wo zum Teufel ist er?«, fragte Mister Stanley.
Zeke tauchte aus dem Schatten auf und warf sich auf den Rücksitz. »Fahr los. Und frag gar nicht erst.«
»Hast du gegessen?«, fragte Mister Stanley.
»Lass uns nach Hause fahren«, sagte Zeke.
»Du brauchst Proteine«, sagte Mister Stanley.
Irgendein Schutzengel väterlichen Instinkts musste Mister Stanley geleitet haben, denn nach fünfzehn Minuten auf dunklen Landstraßen bogen sie auf den Parkplatz eines Diners. Zeke rutschte auf eine Bank am Fenster. Mister Stanley setzte sich neben ihn, und Lula nahm ihnen gegenüber Platz.
Lula war froh, dass sie sich nicht mit den Motel-Spaghetti vollgestopft hatte. Sie bestellte ein überbackenes Thunfischsandwich, ein Stück Zitronenbaiserkuchen und ein großes Cola. Nein, lieber einen Kaffee.
Mister Stanley bestellte den Burger Deluxe, änderte dann seine Meinung und fragte, ob sie eine einfache Dose Thunfisch hätten, ohne Mayonnaise, was sie hatten, obwohl das Mister Stanleys Ansehen in den Augen der Kellnerin deutlich schmälerte. Er sagte: »Ich nehme auch Kaffee. Den echten. Mit Koffein.«
»Kaffee«, sagte die Kellnerin. »Und du, Herzchen?«
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Zeke.
»Brauchst du noch ein bisschen?«, fragte ihn die Kellnerin. »Du kannst es mir sagen, wenn ich deiner Mom und deinem Dad den Kaffee bringe.«
»Wie kann Lula meine Mom sein?«, wollte Zeke wissen, nachdem die Kellnerin gegangen war. »Sie hätte mich
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