Lügennetz: Thriller (German Edition)
was um ihn herum geschah, und war stolz auf seine Fähigkeit, sich an alles und jeden zu erinnern. Besonders an Gesichter. Für ihn bedeutete es Lebensgefahr, ein Gesicht zu vergessen.
Er war fünfzig, doch seine Sinne und sein Instinkt waren so scharf wie eh und je. Bravo, Jeanine, dachte er, während er sie verfolgte. Nicht allzu viele Menschen auf dieser Erde konnten damit prahlen, einen wie Peter Fournier an der Nase herumgeführt zu haben.
Eigentlich gibt es niemanden außer dir, überlegte er.
Er rannte, um nicht den Anschluss zu verlieren, als sie an der nächsten Ecke nach links abbog. Sackgasse. Am Ende der dunklen Seitenstraße, zwei Querstraßen weiter Richtung Osten, stand ein wuchtiges, schmutziges altes Gebäude. Grand Central Station. Er und seine Familie hatten den Bahnhof an ihrem ersten Tag in New York besucht.
Tunnel, dachte er. Dunkelheit, schnelle Züge, Menschenmengen. Ein Ort, an dem Unfälle passieren. Oder Verbrechen.
In seinem Knöchelhalfter steckte seine kleine, unregistrierte Waffe, doch da auf dem Bahnhof zum Schutz vor Terroranschlägen zahllose Polizisten im Einsatz waren, konnte er sie nicht verwenden. Damit blieb ihm sein mithilfe einer Feder ausfahrbarer Totschläger, den er seit seinen Tagen bei der Bostoner Polizei hinten im Hosenbund mit sich führte, oder sein Gürtelschnallenmesser. Dann also das Messer. Er könnte es rasch wie bei einem Taschenspielertrick herausziehen und wieder verschwinden lassen. Ihr die Oberschenkelarterie aufschlitzen und weitergehen. Er stellte sich die Szene vor. Auf keinen Fall Augenkontakt herstellen. Seitlich an sie herantreten, Stich und Schnitt– fertig!
Das, was er jetzt tun musste, reizte ihn so wie einen Zimmermann, der einen Nagel mit einem Hammer einschlug. Es machte keinen besonderen Spaß, sondern musste aus Notwendigkeit getan werden. Er musste seine Grenzen abstecken und sein Geschäft sichern. Doch er war kein Tier. Er gehörte nur zu den Männern, die von Natur aus keine Angst hatten, Gewalt als effizientes Werkzeug einzusetzen.
Eine sanfte, leicht schmerzende Wärme machte sich in seiner Brust breit, als er sich an die wahnsinnig romantischen Momente mit Jeanine erinnerte. An die Art, wie sie in der Bucht aus dem Meer gestiegen war, während das Wasser von ihrem braunen, makellosen Körper hinablief. Der Witz mit dem Megafon vor dem Badezimmer war typisch gewesen. Die messerscharfen Bügelfalten in seinen Uniformhemden…
Sie war ihm von seinen toten Frauen zweifellos die liebste gewesen.
Auf der leicht abfallenden Straße zur Grand Central Station schüttelte Peter traurig den Kopf. » Oh, Meerjungfrau « , flüsterte er seiner entlaufenen Frau hinterher, den Blick stur auf den Rücken ihres schicken, elfenbeinfarbenen Frühjahrsmantels gerichtet. » Hatten wir nicht eine tolle Zeit? «
Was für eine Schande.
67
Ich war nur leicht in Schweiß gebadet, als ich den Grand Central Terminal von der Vanderbilt Avenue aus erreichte. An der Marmortreppe oberhalb der Haupthalle hörte ich endlich auf zu weinen.
Der Anblick löste bei mir immer Bewunderung aus. Überall cremefarbener Marmor, die berühmten, irrsinnig großen Fenster, die Sternzeichen an der ausladenden grünen Decke. Wenn ich in meiner Bürokleidung durch diese altehrwürdigen eleganten Hallen marschierte, kam ich mir schick vor, wie eine echte New Yorkerin. Oft hatte ich getan, als spielte ich in einem alten Film mit. Eva Marie Saint in » Der unsichtbare Dritte « .
Dreißig Sekunden später hatte ich die riesige, wie eine Kathedrale wirkende Halle durchquert und den langen Gang erreicht, der zur Lexington Avenue führte. Rechts und links reihten sich Geschäfte aneinander– ein Juwelierladen, eine Boutique, ein Schuhputzer, ein Ketten-Café.
Weil eine Horde Menschen in den Gang und die Treppe hinauf drängte, die zu den U-Bahn-Linien auf der Lexington Avenue führten, wich ich nach links aus. Aber offenbar nicht weit genug. Ich zuckte vor Schmerzen zusammen, als mir ein Wall-Street-Wichser in Nadelstreifenanzug auf den Fuß trat.
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand die Zehen abgetrennt, und stützte mich an der Wand ab, um aus meinem Schuh zu schlüpfen und meine Zehennägel zu zählen. » Entschuldigung abgelehnt « , rief ich dem Kerl wütend hinterher.
Doch plötzlich war meine Wut verflogen, der Schmerz in meinem Fuß ließ nach, war vergessen.
Dort, wo der Gang am Ende der Haupthalle begann, stand ein großer Mann. Er war attraktiv mit
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