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Luegensommer

Titel: Luegensommer
Autoren: Alexandra Kui
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fühlt sich an wie von Messerstichen durchsiebt. Sie kann sich nicht rühren und sie ist blind. Instinktiv will sie nach ihrer Mutter rufen, doch auch das klappt nicht, weil etwas in ihrem Mund steckt. Ein Stück Stoff, seidenweich, vielleicht ein Halstuch. Der Geruch von Ellas Parfüm. Marit begreift, jemand hat sie in der Laube niedergeschlagen, bevor sie Jans letzten Brief zu Ende lesen konnte. Sie ist an Armen und Beinen gefesselt. Es könnte Ella gewesen sein. Oder Jan selbst.
    Man hat sie lebendig begraben. Der Gedanke schießt Marit aus dem Nichts in den Kopf und versetzt sie so sehr in Panik, dass sie zu ersticken glaubt. Sie will nicht wie Zoé vor der Zeit sterben. Sie ist achtzehn. Wieso liegt sie dann in einem Sarg? Wieso kann sie den Tod bereits riechen?
    Sie muss sich beruhigen. Wenn sie so weitermacht, ist sie wirklich geliefert.
    Marit zwingt sich, ruhig zu atmen, und je gefasster sie wird, desto mehr nimmt sie wahr. Es riecht nicht nach Tod, das ist Quatsch, sondern nach ihrem eigenen Angstschweiß, dazu nach Humus und Regenwasser, und sie kann die Tropfen auch hören, der Regen ist ganz nah. Das hier ist kein Sarg, sie liegt im Kofferraum eines Autos, einer Limousine logischerweise. Ella fährt einen Vectra, wie Marit weiß. Vorsichtig versucht sie die Fesseln zu lösen. Eine Wäscheleine aus Plastik. Die Knoten scheinen nicht allzu fest zu sein.
    Plötzlich Schritte. Eine Autotür wird geöffnet und zugeschlagen, der Motor springt an. Als der Wagen aus dem Stand stark beschleunigt, schlägt Marits Kopf gegen etwas Hartes und sie verliert erneut das Bewusstsein.
    Wasser. Die Welt ist Wasser. Nieselregen, der ihr ins Gesicht fällt. Die Pfütze, in der sie liegt. Der Fluss, der sie schaukelt. Diesmal verliert Marit beim Aufwachen nicht die Nerven und es gelingt ihr sofort, sich zu orientieren. Sie befindet sich in einem Motorboot auf der Elbe und sie ist immer noch gefesselt. Als sie die Augen öffnet, vorsichtig, um sich nicht bemerkbar zu machen, sieht sie, dass Ella am Ruder steht. Allein. Es ist Nacht, am Himmel schwarze Wolken.
    Kopfweh. Sie muss sich aus diesen verdammten Fesseln befreien. Marit pult vorsichtig mit den Fingern daran herum und denkt nach, stolz auf die eigene Besonnenheit. Sie ist ein Prüfungsmensch, und das hier kann durchaus als Prüfung betrachtet werden, zumindest wenn man nicht von vornherein durchdrehen will. Prüfung, das klingt beherrschbar. Sie muss keine Eins machen. Hauptsache, sie besteht.
    Marit erkennt das Boot, ein Sportboot mit Innenborder, das Ellas Arbeitgeber gehört. Im Juni sind sie einmal zu sechst damit rausgefahren: Helene, Markus, Franka, Hendrik, Jan und sie. Markus hatte gerade seinen Sportbootführerschein gemacht und fuhr wie ein Henker. Liegeplatz ist der Jachthafen. Unwahrscheinlich, dass jemand Ella beobachtet hat, als sie Marit aus dem Auto ins Boot schleppte. Nachts. Bei dem Wetter. Sie ist auf sich gestellt. Wenigstens ist der Knoten in der Wäscheleine inzwischen locker genug, um die Hände freizubekommen.
    Was Ella plant, ist nicht schwer zu erraten: Sie wird Marit mitten im Fluss über Bord werfen. Die Frau ist wahnsinnig, da lag der Pastor mit seiner Sorge schon ganz richtig, auch wenn ihm das Ausmaß ihrer Entgleisung sicherlich nicht bewusst war. Soll Marit Jans Mutter hinterrücks angreifen oder sich weiterhin bewusstlos stellen und sie gewähren lassen? Ella ist kräftig und Marit hat mehr Erfahrung im Schwimmen als im Kämpfen. Aber die Fußfesseln und der Knebel, was, wenn die sich nicht lösen lassen? Beim Schwimmtraining haben sie manchmal die Beine fixiert, damit die Arme kräftiger werden, allerdings in einem Schwimmbecken, nicht in der Elbe.
    Bevor sie alle Argumente gegeneinander abwägen kann, wird das Boot langsamer und stoppt, und Marit hat keine andere Möglichkeit, als die Augen zu schließen, denn da kommt Jans Mutter bereits auf sie zu und nimmt ihr die Entscheidung ab. Ihr Atem riecht stark nach Alkohol. Ella säuft wieder.
    Der Aufprall ist überraschend sanft. Marit gleitet in den Fluss, Stirn voraus, und hat unwillkürlich das Bild eines Fisches vor Augen, der von einem Angler aussortiert zurück in sein Element geworfen wird. Wie unzählige Male zuvor schließt die Elbe sie in die Arme, spendet Trost. Sie ist einfach nur froh, Ella entkommen zu sein. Ihre Hände entledigen sich der Wäscheleine ohne Mühe und sie macht einen ersten, kräftigen Zug unter Wasser, weiß, sie muss tauchen, solange es geht. Ihre Jeans
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