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Luegensommer

Titel: Luegensommer
Autoren: Alexandra Kui
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versagen, und das wäre eine Katastrophe, denn jetzt dreht sich alles darum, ihre Würde zu retten, weshalb sie ihm gegenüber keine Schwäche zeigen darf. Bloß das nicht.
    Schwerer Regen prasselt aufs Dach, eine Windböe reißt einen morschen Zweig vom Apfelbaum im Garten und schleudert ihn gegen das Fenster. Marit erschrickt und ärgert sich über sich selbst. Es ist so düster draußen, dass sie das Licht einschalten muss.
    Was hätte sie denn tun sollen, um Jan als Freundin zufriedenzustellen? Mit einer Scheißwürgeschlange für ihn strippen? Ihm ihren nackten Fuß in den Hals rammen, während sie lasziv die Hüften kreisen lässt? Oder sich besser gleich als sexy Mordopfer im Eis den Hintern abfrieren?
    Marit geht auf und ab. Das Linoleum fiept unter ihren Sneakers, dazu das Pochen, Fließen und Zischeln des Regenwassers, das Rauschen des Windes in den nassen Blättern. Ihre Entschlossenheit bröckelt. Plötzlich trauert sie doch dem Sommer hinterher, der Helligkeit. Dieser dunkle Tag hat etwas Unheimliches. Es ist nur Regen, beschwört sie sich.
    Im Kühlschrank steht eine angebrochene Flasche Cola und sie trinkt einen Schluck, verzieht angewidert das Gesicht. Die Kohlensäure ist raus.
    Um halb drei ruft Marit auf Jans Handy an und lässt so lange klingeln, bis das Freizeichen erstirbt und eine Stimme vom Band sie über die Unerreichbarkeit des Teilnehmers informiert.
    Die Hände in die Hüften gestemmt, dreht sie sich einmal um die eigene Achse, hat keinen Schimmer, was sie als Nächstes tun soll. Dann sieht sie den Rucksack. Er liegt wie achtlos weggeworfen neben der Tür auf dem Fußboden. Ein riesiger, abgewetzter No-Name-Rucksack, den sie aus der Schule kennt, weil ihr Freund, ganz Gentleman, darin ihre und seine Bücher herumgetragen hat.
    Jan war hier.
    Minutenlang ist Marit unfähig, sich zu rühren, steht einfach da und starrt auf den Rucksack, als wäre es ein Kadaver, und hat ein ganz, ganz schlechtes Bauchgefühl.
    Als sie sich schließlich überwindet nachzusehen, stößt sie auf Jans Notebook, in einen blauen Leinenstoff gewickelt, sie setzt sich damit aufs Sofa, klappt es auf. Der Rechner ist eingeschaltet und fährt sofort aus dem Ruhemodus hoch, was keine Überraschung ist, wohl aber, dass sich auf dem üblicherweise mit Dateien vollgestopften Desktop nur noch ein einzelner Ordner befindet. Er trägt den Namen Jim S. Wie der Absender der E-Mails, die nach Zoés Tod an ihre Adresse verschickt wurden.
    Jim S.! Marit verschränkt die Hände hinter dem Nacken und fixiert einen dunklen Fleck an der Decke, bis ihr Gehirn widerstrebend die gewünschte Information freigibt: Der Held in »Denn sie wissen nicht, was sie tun« heißt Jim Stark. Gespielt von James Dean, aber das spielt keine Rolle, wichtig ist nur die Botschaft an sie. Jan hat den Rucksack absichtlich hier zurückgelassen, das ist seine Antwort auf ihre SMS. Sie sollte den Rechner mit dem bereitgestellten Ordner finden und sie soll diese Briefe lesen. Daher tut sie es.
    Jan hat Zoé umgebracht. Daran lässt sein furchtbares, an sein eigenes Opfer gerichtetes Geschreibsel keinen Zweifel. Anscheinend war es ein Versehen und seine Tat quält ihn, gleichzeitig will er oder kann er sich der Verantwortung nicht stellen. Zerrissen zwischen dem Verlangen, gefasst zu werden, und der Entscheidung, alles zu verschleiern, legt er halbherzig Spuren, stellt sich jedoch nicht der Polizei. Und deswegen hat er im Meer tatsächlich vorgehabt, sich umzubringen – und Marit gleich mit. Er ist übergeschnappt. Und wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit sogar gefährlich. Ihr Jan. Jan, von dem Helene gesagt hat, er sei ein Guter. Jan, der beinahe schon zu Marits Familie gehört.
    Jetzt muss sie doch heulen. Als sie in den blauen Stoff schnäuzen will, der um Jans Computer gewickelt war, stutzt sie. Ein Kleid, ein marineblaues Leinenkleid. Obwohl es in keiner Weise ihrem Stil entspricht, weiß Marit, dass es Zoé gehörte. Und dass sie es an dem Tag trug, als sie sterben musste. Noch ein Beweis. Sie hätte keinen mehr gebraucht.
    Der letzte Brief aus dem Jim-S.-Ordner ist nicht an Zoé gerichtet, sondern beginnt mit der Anrede »Liebe Marit«. Die Worte explodieren in ihrem Kopf und hinterlassen einen Schmerz, der sie zuerst in ein schreiend grelles Licht, dann in tiefe Dunkelheit katapultiert.
    Sie wacht auf, weil sie friert. Ihr Kopf brennt wie Feuer, aber sie friert. Ohne zu begreifen, was mit ihr geschieht, versucht Marit aufzustehen, ihr ganzer Körper
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