Luegensommer
Schritten umrunden sie das Haus. Er bekundet sein Mitgefühl wegen der eingeworfenen Fenster. Das seien Vollidioten. Marit schenkt sich die Frage, wie er davon erfahren hat, es spielt keine Rolle. Dorfklatsch eben.
Der Garten ist kaum bestellt, eine abfallende Wiese mit einigen Obstbäumen, auf der Kornblumen und roter Mohn blühen. Mittendrin überall Kunst, Skulpturen aus Holz, Stein oder Bronze und, genau wie vorn, trümmerähnliche Installationen aus Kupferdraht, Aluminium und Stahl. Ein schmaler, mit Muschelsplittern angelegter Weg führt zu einer Bank unter einem Apfelbaum. Daneben ein rund gemauerter Brunnen, schon halb zerfallen.
»Schön hier«, gesteht Marit ein, worauf Jespersen neben einer Schnitzerei stehen bleibt, eine Art Totempfahl. Auf Augenhöhe begegnet ihr der intensive Blick eines Tiers, ein Relief, bei näherer Betrachtung unverkennbar eine Wolfsschnauze.
»Das hier hat Zoé gemacht. Im letzten Sommer. Das Material ist Treibholz.«
»Wow«, entfährt es Marit, ehrlich beeindruckt. »Ich wusste nicht, dass sie so gut ist«, und verbessert sich in Gedanken: gut war.
Jespersen schweigt und sieht schon wieder ziemlich fertig aus. Um ihn abzulenken, damit er nicht erneut anfängt zu flennen, fragt Marit ihn nach dem Künstlernetzwerk, aber er kennt es nicht, hat mit dem Internet wenig am Hut, wie die meisten Leute in seinem Alter.
Als wolle er Abbitte leisten, zeigt Jespersen ihr noch ein weiteres Werk seiner Tochter. Es heißt Wolfskind, eine in etwa fußballgroße Plastik aus Bronze, die auf dem Stamm eines mannshoch abgesägten Apfelbaums befestigt wurde. Auf den ersten Blick handelt es sich lediglich um die stilisierte Darstellung eines zusammengerollt daliegenden Wolfswelpen, doch als Marit genauer hinsieht, erkennt sie das Selbstporträt. Das Tier hat Zoés Augen und nicht nur das, auch ihren Ausdruck. Obwohl die Plastik ja aus Bronze ist, das helle Blau also fehlt, kommt es Marit vor, als hätte Ansgars Freundin Kontakt zu ihr aufgenommen. Schaudernd geht sie noch einmal zurück zu dem Holzrelief: derselbe Effekt, nur nicht ganz so gelungen.
Wolfskinder. Marit erinnert sich an ein Referat von Franka im Geschichtsunterricht: So nannte man Kriegswaisen, die verirrt und auf sich gestellt in den Wäldern des ehemaligen Ostpreußen umherstromerten. Damit wäre die Frage, ob Zoé sich von ihren Eltern vernachlässigt fühlte, wohl ein für alle Mal beantwortet. Ansgar hatte recht: Aus ihr hätte bestimmt eine große Künstlerin werden können.
Sie sieht sich nach Jespersen um. Der steht beim Brunnen und winkt sie zu sich.
Angeblich ist das Wasser genießbar, weshalb, an einer Kette befestigt, eine Emailletasse bereitliegt, aber Marit traut der schlammigen Brühe nicht, die Zoés Vater aus der Tiefe hervorholt.
Schließlich lässt er sich mit einem Pusten auf die Bank sinken. »Warum bist du heute hier, Marit? Vermisst du wieder ein paar Bücher?«
Marit schaut hinauf zum Haus, überzeugt, dass Rena Berger hinter einem der weiß gestrichenen Fensterrahmen Wache hält und sie auf Schritt und Tritt beobachtet. Sie muss an den Abend denken, als Hardy Jespersen zu weinen begann und sie ihm mit einer Umarmung Trost spendete oder dies zumindest versuchte. Wie unangenehm sie die Berührung empfand. Später in Zoés Dachkammer seine merkwürdige Bemerkung über das Alleinsein. Wohl hat sie sich in Jespersens Gegenwart noch nie gefühlt.
»Willst du dich nicht setzen?«, fragt er und klopft mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich.
Plötzlich hat Marit Angst vor ihm. Sie blickt abwechselnd von der Bank zu den Fenstern. Hat dieser fette, kleine Bildhauer sich etwa an sie rangemacht, ohne dass sie es bemerkt hätte? Franka behauptet ja immer, sie sei naiv. Vielleicht macht Hardy Jespersen so etwas ständig. Frau Berger lässt eine derartig despektierliche Bemerkung doch nicht ohne guten Grund fallen, die kennt ihren Mann.
»Komm schon, setz dich, ich beiße nicht«, sagt Jespersen.
Während Marit verwirrt stehen bleibt, flattert ein Zitronenfalter vorbei und landet neben ihr auf einer Kornblume. Das Perlmutt der zerriebenen Muscheln auf dem Weg schimmert pastellfarben im blassen Sonnenschein. Es ist wirklich schön hier. Wieso hat Zoé immer so schlecht über ihr Zuhause geredet, obwohl nach außen hin alles einen echt coolen Eindruck macht? Bloß weil ihre Eltern sich so wenig Zeit für sie genommen haben? Oder steckt mehr dahinter – Unaussprechliches? So was hört und liest man ja
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