Luegensommer
bevor sie ihr die Tür vor der Nase zuschlägt.
»Frau Berger?«
Hinter der grünweiß getünchten Haustür verhaltenes Schluchzen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Marit idiotischerweise und bereut es sofort. Nichts ist in Ordnung, und daran kann niemand mehr etwas ändern.
Zoé ist tot.
Sie spürt, wie sehr ihr dieser Gedanke immer noch nahegeht. Ihr immer wieder aufs Neue einen Schreck einjagt. Es hilft nichts, sie muss in Bewegung bleiben. Auch wenn es ihr falsch vorkommt, die weinende Frau sich selbst zu überlassen, Marit bleibt keine andere Wahl, als sich auf den Weg nach Hamburg zu machen, in den Hafen, wo Grischa auf seinem Hausboot hoffentlich noch nicht bemerkt hat, dass sein UnArt-Profil in den vergangenen Stunden verstärkt von Community-Neulingen frequentiert wurde. Von unterwegs wird sie Helene anrufen und sie auf den neuesten Stand bringen. Weil ihr Magen knurrt, beschließt sie, sich für die Fahrt beim Bäcker noch schnell etwas zu essen zu holen. Um diese Uhrzeit, kurz nach der Mittagspause, ist dort bestimmt nicht viel los.
Beeke Quast wirkt verlegen, als Marit die Backstube betritt. Diese Reaktion kennt sie inzwischen: ihr neues Leben als Geächtete. Zur Begrüßung ein knappes Nicken wie unter Fremden. Dabei kennen sie sich gut, waren auf der Grundschule befreundet, bevor sich ihre Wege trennten und sie nur noch selten miteinander zu tun hatten. Seit Beeke die Bäckerlehre begonnen hat, ist sie ziemlich drall. Steht ihr allerdings nicht schlecht.
Marit ist die einzige Kundin. Sie betrachtet die Auslagen, hauptsächlich Süßes: Butterkuchen mit oder ohne Guss, Apfelstücke, Bienenstich. Sie entscheidet sich schließlich für ein Käsebrötchen, das frisch geschmiert werden muss. Beeke sieht nicht begeistert aus.
»Mit Butter oder Remoulade?«
»Butter.«
»Tomate?«
»Danke, gern.«
Sie macht sich ans Werk. Da Beeke sich von Natur aus eher bedächtig bewegt, hätten sie Gelegenheit zu plaudern, was sie normalerweise auch tun würden. Doch heute widmet sie sich so konzentriert jedem einzelnen Handgriff, als ginge es dabei um den sachgerechten Umgang mit radioaktiven Stoffen und nicht um die Belegung eines Käsebrötchens. Marit weiß natürlich, woher die Schweigsamkeit ihrer ehemaligen Klassenkameradin rührt, ist jedoch nicht bereit, sie so billig davonkommen zu lassen.
»Und wie geht’s?«
»Ganz gut.« Beeke schaut sich um, wie um sicherzustellen, dass auch wirklich niemand außer ihnen beiden im Laden ist, bevor sie kaum hörbar hinzufügt: »Und dir?«
»Bestens.«
Beeke erstarrt mitten in der Bewegung, ein Salatblatt in der Hand, und versteht die Welt nicht mehr. »Echt?«
»Ja klar«, sagt Marit. Sie muss ein Lachen unterdrücken, obwohl es eigentlich ziemlich beschissen ist, was hier passiert. »Sollte es nicht?«
»Und was ist mit …«, Beeke weiß nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen soll, platziert mit hochrotem Kopf den Salat endlich auf der dafür vorgesehenen Brötchenhälfte, räuspert sich, »… eurem Haus?«
»Unser Haus? Das steht noch.«
»Aber die Fenster.«
»Dürften inzwischen repariert sein.«
»Oh.« Beeke hat ihr Werk vollendet und stopft das Brötchen in eine Papiertüte. »So schnell. Das ist toll. Zwei Euro.«
Marit bezahlt und erspart sich und Beeke die Frage nach den Tätern. Denn sie muss wissen, wer die Steine geworfen hat, hier sind am Morgen sicher mehr Gerüchte über den Ladentisch gegangen als Brötchen, die Backstube ist eine einzige Informationsbörse. Was nicht heißt, dass sie Marit einweihen würde. Das war einmal.
Sie ist schon fast beim Wagen, als ein kleiner Junge mit einem Moonracer vorbeigeht, weshalb sie ebenfalls Lust auf ein Eis am Stiel bekommt, auf ein ganz bestimmtes mit Maracuja und Vanille, das ihr Großvater erfunden und nach dem Kosenamen seiner Frau Rita – Marits Oma – »Ria-Split« getauft hat. Das haben die beim Bäcker eigentlich immer da.
Nach kurzer Überwindung betritt sie den Laden erneut, ohne zu grüßen, und wühlt unter dem gequälten Blick ihrer einstigen Schulfreundin so lange in der Eistruhe, bis sie das Logo des Herstellers auf der Vorderseite bemerkt. Ein Kontrahent ihres Vaters. Genauer gesagt der Marktführer. Die Firma befindet sich im Besitz eines der weltweit größten Nahrungsmittelkonzerne und ist dennoch in der gesamten Niederelberegion ziemlich schlecht aufgestellt. Man kauft lieber lokalpatriotisch. Zumindest bislang.
»Neuer Lieferant?«, fragt Marit und studiert die
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