Luegensommer
ständig in den Medien.
Marit kaut auf der Unterlippe. Allmählich nimmt ihr Misstrauen gegen alles und jeden Ausmaße an, die ihr selbst eine Nummer zu groß erscheinen.
Sie räuspert sich, spürt ihr Herz pochen, als sie eine Frage stellt, die sie ursprünglich nicht auf dem Zettel hatte und ihr deswegen nur schwer über die Lippen kommt: »Wusste Zoé, dass Sie auf Mädchen in ihrem Alter stehen?«
Erstaunlicherweise ist Jespersen kein Stück beleidigt, sondern lächelt milde. »Die meisten alten Säcke wie ich stehen auf junge Mädchen, Marit, über diese Dinge wusste Zoé schon früh Bescheid. Das hängt mit eurer verfluchten Schönheit zusammen, in dem Alter seid ihr so makellos, dass es beim Ansehen beinahe schmerzt.«
Oh Gott! Sie will das nicht hören, nicht von Zoés Vater, das ist abstoßend. Marit würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, stattdessen ballt sie die Hände zu Fäusten, blickt unwillkürlich an sich hinunter: die schwarzen Chucks, ihre abgeschnittenen Jeans, das weiße T-Shirt von Neighborhood mit dem Mangamädchen vorne drauf, zum Glück ziemlich lang, aber an den Hüften gerafft und im Nacken tief ausgeschnitten – ihr wird schlecht bei dem Gedanken daran, wie Jespersen all das genau in diesem Moment wahrnimmt, obwohl er weiß, es steht ihm überhaupt nicht zu, sie auf diese Weise zu betrachten, das darf nur Jan. Es ist, als hätte er sie begrapscht. Nein, er hat sie begrapscht. Mit seinen Worten, seinen Blicken.
»Haben Sie etwa …«, beginnt sie, doch es ist absolut ausgeschlossen, dass sie den Satz zu Ende bringt, so sehr kippt ihre Stimme. Sie ärgert sich darüber, kommt aber nicht dagegen an.
»Habe ich was?« Er erhebt sich von der Bank, will auf sie zugehen, worauf Marit zurückweicht. Jespersen bleibt stehen. Zwischen ihnen flattert der Zitronenfalter auf, ein gleichgültiger Zeuge. »Wenn du mir jetzt allen Ernstes unterstellen willst, ich hätte meine Tochter angefasst, kannst du sofort einen Abgang machen. Im Ernst, hau ab, bevor ich mich vergesse. Ich muss mich von einer verklemmten Dorfpomeranze nicht beleidigen lassen.«
Jespersen hat aufgehört zu lächeln. Marit ist einerseits beleidigt, andererseits fast froh über seine heftige Reaktion, denn so fällt es ihr leichter, ihm zu glauben. Er mag eklig und alt sein, ein Aschloch, aber kein Perverser, das verrät ihr ihr Bauchgefühl. Er ist einfach ein unglücklicher Mann. Was nichts daran ändert, dass sie es keine Minute länger in seiner Nähe aushält.
Fluchtartig verlässt Marit den Garten, ist bereits beim Wagen angelangt, als ihr der eigentliche Grund ihres Besuchs wieder in den Sinn kommt: Grischa. Verdammt. Sie hat sich völlig aus dem Konzept bringen lassen. Und jetzt? Das hier ist zu wichtig, um zu kneifen. Grischa ist ihr Hauptverdächtiger, sie muss unbedingt mehr über ihn erfahren, und Jespersen kennt den Kerl, hat ihn neulich kurz erwähnt, doch zu Zoés Vater in den Garten will sie auf keinen Fall zurück. Also bleibt nur das kleinere Übel – ihre Mutter.
Marit geht zur Haustür und hebt die Hand, um ein weiteres Mal zu klopfen, als Zoés Mutter bereits öffnet, in der linken Hand eine brennende Zigarette.
»Was willst du noch?«
»Ich hätte eine einzige Frage. Bitte. Kennen sie Grischa?«
»Sicher. Ein vielversprechender junger Fotograf«, sagt Rena Berger, worauf Marit automatisch überlegt, ob sie die Bilder im Netz gesehen hat – die eigene Tochter als betörend schöne Leiche. Sie hält es für pietätvoller, sich nicht danach zu erkundigen.
»Kennen Sie viele Arbeiten von ihm?«
»Nein. Eigentlich nur das Bild, das in Zoés Zimmer hängt. Ein Schaf ohne Kopf. Also eigentlich nur der aufgeschnittene Hals, um genau zu sein. Aber sehr gekonnt in Szene gesetzt.«
»Hab ich gesehen. Frau Berger, ich bin auf der Suche nach Grischa. Sie wissen nicht zufällig, wo er wohnt? Oder wie er mit Nachnamen heißt?«
Rena Berger schnippt die Asche auf den Boden vor der Haustür, bläst Marit den Rauch ins Gesicht, bei ihr muss es anscheinend immer theatralisch zugehen. »Das waren schon mindestens vier Fragen. Nachname – keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob Grischa sein richtiger Vorname ist. Jedenfalls wohnt er in einem Hausboot, da bin ich mir ziemlich sicher. Davon hat Zoé mal erzählt. Ein Hausboot irgendwo im Hamburger Hafen. Das gefiel ihr. So etwas hat sie sich auch für ihre eigene Zukunft vorgestellt«, sagt sie, und Marit sieht gerade noch, wie ihre Augen sich mit Tränen füllen,
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