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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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offenbar etwas Wichtiges, denn er bemüht sich zum Telefonieren extra aus dem Liegestuhl, geht gestikulierend hin und her. Anschließend hebt er die Bierflasche auf, setzt an, trinkt und zieht sich in seine rot getünchte Bude zurück.
    Es dauert nicht lange, bis er zurückkommt, jetzt vollständig angezogen: Jeans, T-Shirt und Sneakers in Schwarz. Er hat ein ziemlich teures Rennrad dabei, das er behutsam über die Anlegebrücke balanciert. Ohne in ihre Richtung zu schauen, steigt er auf, strampelt dicht an Marits Mini vorbei und ist verschwunden.
    Freie Bahn. Bevor sie an Bord geht, fotografiert Marit mit der Handykamera den Namenszug auf der Schiffswand. Auf Deck sichert sie sich den Zigarettenstummel, für mögliche DNA-Proben. Man weiß ja nie. Eine stinknormale Zigarette, kein Joint. Die Packung liegt noch da: Lucky Strikes.
    Die Vorstellung, als Nächstes das Innere des Hausboots zu durchsuchen, bereitet ihr kurzzeitig Gewissensbisse. Abgesehen von einigen Strafzetteln für abgelaufene Parkscheine hat sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen, nun ist sie plötzlich im Begriff, etwas wirklich Verbotenes zu tun. Verboten und möglicherweise sogar gefährlich, unvernünftig auf jeden Fall. Vernunft. Bisher hatte das Wort in Marits Leben einen gewissen Stellenwert, es störte sie auch nicht sonderlich, wenn ihre Freundinnen, allen voran Franka, sich darüber lustig machten, im Gegenteil, sie fühlte sich sogar ein wenig überlegen. Es heißt ja nicht umsonst »vernunftbegabt«. Doch jetzt ist wohl eher eine andere Tugend gefragt: Mut.
    »Komm schon«, spornt sie sich selbst an, schlägt mit der flachen Hand auf die eigene Hüfte, als wäre sie ein ängstliches Springpferd, das vor einem Hindernis scheut.
    Ziemlich blöd, aber es hilft. Marit probiert ihr Glück an der Eingangstür. Nicht abgeschlossen. Als sie eintritt, muss sie sofort ihr Vorurteil korrigieren. Das hier ist deutlich besser als ein Schuppen. Von drinnen wirkt Grischas Hausboot sogar fast ein bisschen edel: weiß gelaugte Holzdielen, schwarzes Ledersofa, Futonbett, Glasschreibtisch. Außerdem ein Kaminofen und eine moderne Küchenzeile mit weiß lackierten Fronten und italienischer Espressomaschine. Edelstahl. Alles in einem einzigen, großzügigen Wohnraum, der über ein makellos geputztes Panoramafenster zum Hafenbecken verfügt. Keine Bilder an den Wänden. Das Sonnenlicht wird von der Wasseroberfläche an die Decke reflektiert, ein glitzerndes Gekräusel. Wie dieses Glitzern den ganzen Raum erfüllt. Fast wie in einer Schneekugel. Kein Wunder, dass es Zoé hier gefallen hat, verglichen mit der Enge in ihrer stickigen Dachkammer, im Haus ihrer Eltern überhaupt. Gänzlich mittellos scheint der Kerl ja nicht zu sein. Ob er von seinen Bildern so gut lebt? Ob Zoé und er hier zusammen geschlafen haben und ob es das war, was Ansgar meinte, als er davon sprach, dass sie ihn zugrunde richten würde? Verständlich wäre es.
    Marit zögert. Alles ist so ordentlich, vielleicht ist es die Ordnung, die sie hemmt. Sie weiß nicht genau, was sie erwartet hat – irgendeine Art von kreativem Chaos vermutlich.
    Dann entdeckt sie das MacBook auf dem Schreibtisch. Es ist zugeklappt, aber die Kontrollleuchte auf der Vorderseite pulsiert ruhig an und aus, als würde das Gerät atmen. Der Computer ist an.
    Fotos von toten Mädchen. Hunderte. Erhängt, erschlagen, erwürgt. Erstochen, das Messer noch in der Brust. Im Herbstlaub verscharrt, blutüberströmt in einer Badewanne, im Nachthemd auf Bahngleisen, im Hintergrund. Grischa hat nicht nur Zoé als Mordopfer fotografiert, sondern auch etliche andere Mädchen. Teilweise nur Schnappschüsse, manchmal ganze Serien, die jeweils einer strengen Farbgebung unterliegen. Blautöne für eine katzenhafte Asiatin, sepiafarben für eine Blondine.
    Der Kerl hat definitiv einen Dachschaden.
    Manche der Bilder sehen überhaupt nicht mehr nach Kunst aus, sondern einfach nur grausam. Um einiges abscheulicher als die vergleichsweise harmlosen Exemplare aus der UnArt-Community. Je länger sie hinschaut, desto mehr hat Marit die Befürchtung, dass sich ihr der Magen umdrehen könnte, sie muss daran denken, wie sie auf den alten Friedhof gekotzt hat. Doch heute passiert nichts dergleichen, stoisch betrachtet sie ein Bild nach dem anderen. Offenbar bekommt sie allmählich Übung, ist im Begriff, zu einem völlig anderen, abgebrühten Menschen zu werden, und sie weiß nicht, ob sie diese neue Marit eigentlich mag. Leider hat sie

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