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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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hingegen umso mehr. Sie rennt und lauscht. Die Schwere seiner Schritte. Die Leichtigkeit ihrer eigenen. Schließlich riskiert sie einen zweiten Blick über die Schulter. Sein Oberkörper rudert, er presst eine Hand in die Seite, das Gesicht verzerrt, eine Mischung aus Hass und Schmerz. Trotzdem: Er kommt näher. Die Ungerechtigkeit der Kräfteverteilung zwischen Mann und Frau.
    Marit probiert zu beschleunigen, doch sie ist am Limit. Inzwischen fällt das Rennen nicht mehr ganz so leicht.
    Als sie den Zug sieht, denkt sie als Erstes: auf keinen Fall. Und da ist die Sache auch schon entschieden, sie hat keine Wahl, da rumpelt ihre Chance herbei. Ein Güterzug, ellenlang, das Ende nicht einmal in Sichtweite.
    Wenn es ihr gelingt, direkt vor der Lok die Schienen zu überqueren, ist sie Grischa los. Wenn nicht, hat er gewonnen. Wie beim Roulette: alles oder nichts.
    Es könnte ziemlich knapp werden. Marit hat die rote Lok fest im Visier, der Lokführer beugt sich mit dem halben Oberkörper aus dem Seitenfenster. Als er sie entdeckt, gibt er ein Warnsignal ab, ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das die Luft zerreißt. Die Gleise sind erreicht, unebenes Terrain, sie muss langsamer werden. Schotter knirscht unter ihren Füßen. Jetzt bloß nicht stürzen. Im richtigen Augenblick schaut Marit nach unten, nach rechts, danach wieder voraus und konzentriert sich, wobei ihr ein weiterer Adrenalinstoß zu Hilfe kommt. Eine Frage von Metern, reine Glückssache. Das Pfeifen der Lok, das Quietschen von Bremsen. Es stinkt nach Diesel, Hydrauliköl und heißem Gummi. Der Idiot da oben im Führerhaus soll jetzt bloß nicht versuchen anzuhalten.
    Dann ist sie plötzlich drüben, auf der anderen Seite des Gleises, ohne auch nur zu straucheln. Punktlandung.
    »Fahr weiter, los weiter«, schreit sie den Lokführer an, dessen erhitztes Gesicht jetzt auf der anderen Seite am Fenster auftaucht und suchend zurückblickt.
    Tatsächlich: Er macht ihr die Freude. Marit reißt die Arme hoch, während der Wind des Zuges sie erfasst, und sie jubelt, als wären das die Bundesjugendspiele und nicht das leichtsinnigste Himmelfahrtskommando ihres ganzen Lebens.
    Container reiht sich an Container. Rot, rot, grün, rot, grün, grün. Auf den grünen steht Evergreen, was Marit aus unerfindlichen Gründen urkomisch findet. Geradezu zum Kaputtlachen. Wahrscheinlich ist sie hysterisch. Immerhin hat sie einen Computer geklaut und wurde beinahe von einer Lok zermalmt. Wenn das nicht Gründe genug sind. Aber eigentlich fühlt sie sich super.
    Lachend fällt sie in einen leichten Trab, läuft in Fahrtrichtung neben dem Güterzug her, der so langsam unterwegs ist, dass sie beinahe Schritt halten kann. Zumindest eine Weile. Der Dauerlauf ohne Verfolger erweist sich als weitaus ermüdender als der Sprint mit Grischa im Nacken.
    Allerhand Staub wird aufgewirbelt, außerdem Müll, der auf den Gleisen liegt, irgendwelche Plastikfetzen undefinierbarer Herkunft. Immerzu muss Marit ausweichen. Lärm, Schmutz, Gestank. Die Sonne zeigt sich weiterhin unerbittlich, legt es darauf an, ihr ein Loch in den Scheitel zu brennen. Und im Gegensatz zu Grischa ist sie nicht eingecremt.
    Sie mag nicht mehr. Dennoch zwingt sie sich weiterzulaufen, um den Abstand zwischen sich und Grischa zu vergrößern. Über eine Eisenbahnbrücke – zweigleisig, Gott sei Dank, zwischen den Bohlen schimmert Wasser in der Tiefe – gelangen sie zu einer Art Rangierbahnhof und zu guter Letzt über ein Gewirr von Gleisen auf eine vierspurige Straße. Der Verkehr muss warten, so ist das im Freihafen, wenn ein Güterzug kommt, stellt ein Arbeiter am Straßenrand die entsprechende Ampel von Hand auf Rot.
    Ganz vorn steht ein dunkler Geländewagen, Koreaner oder Japaner. Soweit Marit es durch die getönten Scheiben erkennen kann, sieht der Mann hinter dem Steuer ganz okay aus: heller Anzug, Krawatte, ein Geschäftsmann. Bestimmt kein Psychopath. Ihre Eltern haben ihr nämlich verboten zu trampen.
    Sie geht zur Fahrerseite, da hat der Mann bereits das Fenster geöffnet. »Alles in Ordnung?«
    Er ist vielleicht Mitte vierzig und wirkt nett, abgesehen von der protzigen Armbanduhr.
    »Können Sie mich ein Stück mitnehmen?«
    Der Fahrer überlegt kurz, taxiert sie mit Blicken. »Also gut, steig ein.«
    Im Innern des geräumigen Wagens ist es herrlich kühl. Auf dem Rücksitz liegen Tageszeitungen: eine FAZ und eine Süddeutsche, außerdem ist dort ein Kindersitz angebracht. Ein gut verdienender Familienvater,

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