Luegensommer
kann.
Sie klickt die Liste mit Weeeerner 4 evers sieben Freunden an. Ein Name lässt sie trotz der Hitze frösteln: Grietje 2005 . Grietje, so hieß die Segeljacht ihrer Familie. Und 2005 war das Jahr, in dem sie sank. Ansgar. Ganz bestimmt. Allein schon, weil Grietje 2005 außer Weeeerner 4 ever überhaupt keine Freunde hat. Typisch. Ihr bescheuerter Bruder ist selbst für das Netz noch zu freakig, wo normalerweise jede noch so dämliche Hackfresse Anschluss findet. Was hat der denn bloß in dieser Community zu suchen? Er will Informatiker werden, der hat doch überhaupt keine künstlerischen Ambitionen.
Marits Finger sind so schwitzig, dass sie Schwierigkeiten mit dem Touchscreen-Display hat. Dennoch wird sie fündig: Ansgar hat nur zwei Bilder eingestellt, ein ziemlich kitschiges Foto vom Sonnenuntergang in der Elbmündung und die grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme eines zugefrorenen Sees. Im Fokus eine Krähe im Schnee. Viel Himmel. Im Hintergrund am rechten oberen Bildrand, kaum zu erkennen, ein dunkles Bündel. Es könnte alles Mögliche sein, aber Marit weiß ja, dass es sich um eine Mädchenleiche handelt. Ansgar hat an diesem obskuren Kunstprojekt teilgenommen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Jetzt flüstert sie nicht mehr, sondern flucht lauthals, schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad, lässt mit der anderen versehentlich das Handy los. Es fällt seitlich und rutscht klackernd unter den Sitz – war ja klar. Am liebsten würde sie mit beiden Fäusten auf das Lenkrad eintrommeln, aber sie reißt sich zusammen und bückt sich ergeben, um das Telefon aufzuheben, stößt sich die Stirn an der Hupe, es tutet kurz, worauf sie vor Schreck das Zimtkaugummi verschluckt, das längst nach gar nichts mehr schmeckt. Sie hat es einfach in ihrem Mund vergessen. Als sie mit hochrotem Kopf wieder hochkommt, blickt sie in das besorgte Gesicht einer Frau mit zwei hennagefärbten geflochtenen Zöpfen.
»Alles klar?«
Da Marit husten muss, dauert es, bis sie antworten kann. Die Frau wartet geduldig.
»Ja. Wieso?«
»Du hast so laut geflucht.«
Die Frau ist jung, nur ein paar Jahre älter als Marit, trägt ein naturweißes Leinenkleid, das talentfrei selbst geschneidert aussieht, und hat ein blasses Kleinkind in einem Buggy dabei, einen Butterkeks mampfend. Sie lächelt freundlich. »Und du hast gehupt.«
»Das war ein Versehen«, sagt Marit.
»Suchst du jemanden?«
Ist ihr das so deutlich anzusehen? Verflucht. Sie schüttelt den Kopf und fragt sich, was sie sagen muss, um die wohlmeinende Ökotante abzuwimmeln. »Nein. Ich bin eine Freundin von Grischa.«
»Oh. Ach so. Na, dann viel Spaß.«
Weg ist sie, samt Kind und Keks. Marit grinst. Treffer. War ja zu erwarten, dass die beiden nicht allzu viel gemeinsam haben. Seine Nachbarn kann man sich eben nirgendwo aussuchen.
Als sie wieder zu Grischas Hausboot hinübersieht, entdeckt sie ihn. Kein Zweifel, das ist er, scharig 90 , der Typ von Zoés Beerdigung. Auf Deck in einem Klappliegestuhl unter einer aufblasbaren Palme, die bis eben gerade noch nicht da war, genauso wenig wie er selbst. Er trägt schwarze Boxershorts, sonst nichts, neben ihm auf dem Boden steht eine Flasche Astra. Hatte er sich auf dem Friedhof in diesem schwarzen Ledermantel noch gekonnt mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben, wirkt er jetzt geradezu enttäuschend harmlos, daran ändert auch das Stirnpiercing nichts. Die Titankügelchen blitzen bei jeder Kopfbewegung auf. Marit beobachtet, wie er seinen blassen Körper und das Gesicht mit Sonnenmilch einreibt – supergründlich, wie von Mutti eingetrichtert – und sich danach eine Zigarette anzündet. So ein harter Typ und dann Angst vor Sonnenbrand, wie uncool.
Grischa lässt sich Zeit mit der Zigarette, die genauso gut ein Joint sein könnte, sein Blick gleitet minutenlang träge über das stille Wasser des Hafenbeckens hinweg ins Leere, bevor er schließlich ein Buch aufschlägt. Das kann dauern. Anscheinend hat er vor, es sich in der Sonne so richtig gemütlich zu machen.
Marit überlegt. Wie lange soll sie ausharren? Wenn die junge Mutter zurückkommt, könnte sie Marit unfreiwillig verraten, indem sie Grischa von der Begegnung erzählt. Die meisten Leute quatschen einfach viel zu gern und viel zu viel. Genau genommen war es reichlich beschränkt von ihr, der Frau zu verraten, zu wem sie will.
Während sie versucht, zu einer Entscheidung zu gelangen, kommt ihr der Zufall zu Hilfe: Grischa erhält einen Anruf per Handy,
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