Luegensommer
Hauptkommissarin lässt ihre Autoschlüssel von einer Hand in die andere und wieder zurückgleiten und wartet allen Ernstes auf eine Antwort, als könnte diese Information für ihre Ermittlungen entscheidend sein.
»Ich war in Cuxhaven mit meinem Freund Jan. Und auf der Rückfahrt nach Mitternacht bin ich auf der Bundesstraße geblitzt worden. Sie können aber auch gern meinen Reifenabdruck überprüfen, falls Ihnen mein Alibi unglaubwürdig erscheint.«
»Gut.« Birte Varnhorn lächelt und setzt sich hinter das Steuer ihres Wagens. »Möglicherweise komme ich darauf zurück.«
In Ansgars Zimmer. Den ganzen Nachmittag hat Marit davon geträumt, sich zu verkriechen. Als sie endlich die Gelegenheit dazu hat, findet sie keinen Ort, um zur Ruhe zu kommen, stromert im Haus umher, bis sie schließlich auf dem Bett ihres Bruders in einen wohligen Halbschlaf sinkt. Sie weiß genau, wo sie sich befindet, dennoch ist sie im Traum mit ihrem Bruder im Garten. Es ist Herbst, sie sitzen unter der Linde in einer Sandkiste und spielen mit Murmeln, zwei dick eingemummelte Zwerge, beide noch zu jung für den Kindergarten. Stimmt, die Sandkiste war genau an der Stelle, wo Ansgar neulich bei Bier und Luckys seinen Abschied nahm. Marit spürt die tiefe Verbindung zwischen ihnen, sie war nie wirklich weg, nur verschüttet. Ansgar wird wieder nach Hause kommen. Bald.
Plötzlich die Stimme ihres Vaters. »Hier versteckst du dich also.« Dann lauter: »Hilke, komm her. Ich hab sie gefunden.«
Schritte. Marit schlägt die Augen auf und blickt in die besorgten Mienen ihrer Eltern. Sie setzen sich zu ihr an den Bettrand wie bei einem Krankenbesuch.
»In was bist du da eigentlich hineingeraten?«, fragt ihre Mutter, worauf Marit den kindlichen Drang hat, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Als würde ihr Traum einfach weitergehen, fühlt sie sich tatsächlich wie fünf: in Erwartung einer Standpauke, wissend, dass sie irgendwie Mist gebaut hat, jedoch zu klein und beschränkt, um zu begreifen, wie genau und in welchem Ausmaß. Sie fragt sich, ob Mimi Perlan nicht gestorben wäre, wenn sie klüger gehandelt hätte. Eigentlich hat sie überhaupt keinen Schimmer, worauf ihre Mutter überhaupt hinauswill.
»Wieso ruft mich Birte Varnhorn mit der Bitte an, dich zur Räson zu bringen?«
»Keine Ahnung.«
Ihrem Vater platzt der Kragen. »Komm uns jetzt nicht so. Was hattest du mit dieser toten Journalistin zu schaffen? Die Kommissarin meint, das hättest genauso gut du sein können, da in dem Wagen. Also noch mal: In was bist du da hineingeraten? Die ganze Geschichte. Von Anfang bis Ende. Aber dalli. Mir langt es jetzt.«
Puh. Also verdächtigt die Kommissarin sie nicht ernsthaft, das Unglück herbeigeführt zu haben. Gott sei Dank. Marit setzt sich auf, bleibt aber im Bett sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Vater wirkt verändert oder besser erholt. Den autoritären Tonfall kennt sie ja von ihm, aber zuletzt hat er sich ihrer Meinung nach dahinter verschanzt, ein durchsichtiger Versuch, zu verschleiern, wie ratlos er war. Wie durch ein Wunder ist diese Unsicherheit nun anscheinend verflogen, was Marit erleichtert zur Kenntnis nimmt. Wer will schon ratlose Eltern? Die Verlockung, ein umfassendes Geständnis über ihre Aktivitäten der letzten Tage abzulegen, ist immens, da das Ganze ihr Stück für Stück über den Kopf wächst. Andererseits: Ihre Mutter hat gestern noch deutlich gemacht, dass sie Ansgar für einen Mörder hält – und damit automatisch auch für einen Lügner –, weshalb Marit sich allein schon aus Prinzip noch ein wenig ziert, bevor sie zu guter Letzt doch alles beichtet. Die Augen ihrer Eltern werden groß und größer.
»Das glaube ich einfach nicht. Marit, du bist lebensmüde.« Hilke Pauli findet als Erste die Sprache wieder, wenn auch nur, um ihrer Tochter Vorwürfe zu machen, während ihr Mann kommentarlos den Raum verlässt.
»Wo will er denn hin?«
»Keine Ahnung, wahrscheinlich schluckt er ein paar Beruhigungstabletten«, sagt ihre Mutter.
Doch als Winfried Pauli ins Zimmer zurückkehrt, hält er das Telefon ans Ohr gepresst und ist im Begriff, ein Gespräch zu beenden.
»Das sind wirklich gute Nachrichten. Also nochmals: vielen, vielen Dank. Bis morgen dann.«
»Wer war das?«, fragen Marit und ihre Mutter unisono.
»Ansgars Anwalt. Er meint, angesichts der veränderten Sachlage müsste er den Jungen morgen rausbekommen. Zwar bleibt er verdächtig, weil er nun mal Zoés Freund war und sie
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