Luegnerin
Bäumen. Du kannst mich von da unten nicht gesehen haben. Das ist nicht möglich …« Er hielt inne, beugte sich zu mir und betrachtete mich eingehend.
Ich konnte die Poren seiner Haut erkennen, winzige Haare und ein paar Mitesser auf seiner Nase.
»Du bist anders als alle anderen. Was bist du?«
Das hätte der richtige Augenblick sein können. Ich hätte es ihm sagen können. Ich hätte es ja schon ein paar Wochen zuvor fast getan, aber dann waren wir … nun ja, abgelenkt, bevor ich die Worte herausbringen konnte.
»Da ist irgendwas, oder?«, wollte Zach wissen.
Was wäre geschehen, wenn ich ihm alles erzählt hätte? Hätte er gelacht?
Ich fuhr mit den Fingern über seine Wange, über die leichten Stoppeln dort.
»Erzähl’s mir, Micah.«
Stattdessen beugte ich mich vor und küsste ihn auf die Nasenspitze und dann auf den Mund. Wir knutschten rum, ganz zaghaft und vorsichtig, schließlich saßen wir ganz oben in einem Baum und die Schwerkraft kennt kein Pardon.
Als wir wieder herunterkletterten, war es schon dunkel.
»Läufst du mit mir nach Hause?«, fragte er. Das tat ich. Mehr als hundert Blocks nebeneinander, mit hüpfenden Rucksäcken. So hatten wir es schon öfter gemacht und würden es auch wieder tun, dachte ich.
Aber es kam anders.
Vor seinem Haus blieben wir stehen. Zach wischte sich den Schweiß von der Stirn und der Oberlippe. Wir küssten uns noch einmal.
»Morgen«, sagte er.
Ich nickte.
»Erzählst du’s mir dann?«
»Vielleicht.«
Er lachte.
Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.
NACHHER
Brandon hat mich nicht verpetzt. Er geht mir aus dem Weg. Aber Erin geht er nicht aus dem Weg. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit macht er sie an. Erin, die er zuvor nicht einmal angeschaut hat und die ihm scheißegal war, bevor sie abgehauen ist. Selbst noch nachdem sie abgehauen war, als wir alle dachten, sie wäre tot wie Zach.
Erst jetzt, wo sie wieder zur Schule geht und ihr Freund in Florida im Gefängnis sitzt, da schenkt Brandon ihr seine ganz spezielle Aufmerksamkeit. Weil sie jetzt Freiwild ist. Sie zuckt zusammen, schaut sich um, sucht nach möglichen Fluchtwegen. Sie ist ständig bereit, wegzulaufen, den Kopf einzuziehen, sich zu verstecken. Sie verströmt den Beutegeruch: Angst.
Brandon glaubt, weil sie Freiwild ist, ist sie einfach zu kriegen. Er glaubt, dass er sie nehmen kann. Er hat wahrscheinlich recht.
Die Glückliche.
Ich will ihm das Gegenteil beweisen. Es gefällt mir nicht, dass Brandon und ich irgendetwas gemeinsam haben könnten. Ich suche mir meine Beute aus, nicht er. Das kann ich ihm beibringen. Das werde ich ihm beibringen.
Ich wünschte, Hunde würden über Brandon herfallen. Ich überlege, wie ich das anstellen kann. Wie ich ihn zum Freiwild machen kann.
Stattdessen gewöhne ich mir an, so oft wie möglich in Erins Nähe zu sein. Wenn ich da bin, sagt Brandon kein Wort. Er kann mir nicht mal ins Gesicht schauen.
Er hat Angst vor mir.
Und das sollte er auch.
NACHHER
In der Woche nach der Beerdigung esse ich fast jeden Mittag mit Sarah und Tayshawn zusammen. Wir reden nicht über das, worüber ich mit den beiden reden möchte. Wir reden nicht über Zach oder über das, was mit ihm geschehen ist. Ich erzähle ihnen nichts von dem Jungen oder von dem, was ich tun muss.
Am Donnerstag nach der Schule treffen wir uns bei Sarah. Angeblich um zu lernen. Ich hoffe, nicht.
Ihr Dad muss lange arbeiten und ihre Mutter ist verreist bei irgend so einer Tagung für Rechtsanwälte. Wie sich herausstellt, wohnt Sarah nur ein paar Blocks von mir entfernt, aber das Haus, in dem ihre Wohnung ist, ist chic und neu. Es gibt sogar einen Empfangsmenschen. Der sitzt hinter Marmor und schreibt meinen Namen auf und lässt sich meinen Schülerausweis zeigen. Ich war noch nie in einem Wohnhaus mit einem Empfang.
Er reicht mir den Ausweis zurück und teilt mir mit, dass Miss Washington mich erwartet.
»Okay«, sage ich.
»Achtzehnter Stock«, erklärt er mir und zeigt dabei auf die Reihe der Aufzüge.
»Welche Apartment-Nummer?«, frage ich.
»Achtzehnter Stock«, wiederholt er. »Das ist die Nummer. «
Als sich der Aufzug wieder öffnet, steht da Tayshawn. Wir befinden uns in einem Raum, der größer ist als unsere Küche. Die Wände sind mit Schuhregalen gesäumt.
»Du musst die Schuhe ausziehen«, erklärt Tayshawn. Er zeigt auf seine, die bereits in einem der Regale stehen. »Ziemlich abgedreht, was?«
»Allerdings.« Ich schlüpfe aus meinen Turnschuhen und
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