Luftkurmord
berichten, auch wenn ich nicht
weiß, was das bringen soll.« Ich stand auf und hielt ihr die Tür auf. »Du
kannst nach Hause gehen. Halt dich aber zu unserer Verfügung.«
Andrea nickte, schob
sich an mir vorbei in den Flur und ging in Richtung Ausgang.
»Ach, Andrea?«, rief
ich ihr hinterher.
»Ja?« Sie drehte
sich um.
»Du hast gesagt, du
hättest an alle deine Freunde eine Mail wegen der Demo geschrieben.« Ich machte
eine kurze Pause. »Auch an Steffen?«
»Ja, Ina. Auch an
Steffen.«
VIER
Sie klingelte. Kurz darauf hörte sie Schritte durch den Flur
klackern und eilig näher kommen. Es dauerte nicht so lange wie sonst. Sonst kam
Mama von unten, aus dem Keller, wo sie die Wäsche wusch. Oder von oben, aus der
Schlafzimmeretage. Aufräumen. Staubwischen. Sie war immer beschäftigt. Diesmal
allerdings hörte es sich so an, als habe Mama gewartet, bis sie klingelte. Sie
holte Luft und merkte, wie ihre Lunge zitterte.
Die
Haustür öffnete sich einen Spaltbreit und das bleiche Gesicht ihrer Mutter
starrte sie an. »Oh, Gott sei Dank – da bist du ja.« Sie riss die Tür auf,
umarmte sie und drückte sie an sich. »Ich war krank vor Sorge, als ich es
gehört habe. Ich hatte kein Auto hier und …«
»Was
gehört?« Sie befreite sich zaghaft und lächelte.
»Komm
erst mal rein.« Ihre Mutter bekam langsam wieder Farbe. Sie wirkte erleichtert.
Auf dem Küchentisch, den sie von hier aus sehen konnte, stand eine Tasse
Kaffee, und eine Rauchsäule stieg aus dem Aschenbecher auf. Mama rauchte sonst
nie tagsüber.
Sie
ließ die Tasche mit den Schwimmsachen von der Schulter gleiten, stellte sie auf
den Boden und wartete ab.
»Wo
bist du gewesen?« Die Sorge und das warme, herzliche Willkommen waren aus Mamas
Stimme verschwunden.
Sie
blieb stehen, ganz still.
»Ich,
äh«, murmelte sie und senkte den Kopf. »Wir waren im …« Sie zögerte. Wenn sie
log und Mama würde es herausfinden? Wenn sie die Wahrheit sagte? Alles war
falsch, weil sie alles falsch gemacht hatte. Sie räusperte sich, hustete und
fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare. »Du warst nicht da, aber ich
hatte dir einen Zettel hingelegt.« Sie sah sich um, konnte aber das Blatt
nirgendwo entdecken.
»Den
hab ich gefunden.« Ihre Mutter griff in die Tasche ihrer Schürze und hielt ihr
das zerknüllte Papier hin. »Da steht nichts davon, wo du warst.« Ihre Stimme
klang gepresst, wurde immer leiser. Ein untrügliches Zeichen für die
unterdrückte Wut ihrer Mutter. Erich duckte sich, kroch in sich hinein. Die
Launen ihrer Mutter waren unberechenbar.
»Warst
du im Schwimmbad?« Scharf im Ton, aber noch unter Kontrolle.
»Ja.«
Als sie gegangen war und den Zettel auf den Tisch gelegt hatte, war sie sich so
groß vorgekommen. Aber das war jetzt vorbei.
Ihre
Mutter drehte sich um, ging mit langen Schritten in die Küche zurück und setzte
sich auf den Stuhl neben dem Tisch. Sie beugte sich vor und griff nach der halb
verglühten Zigarette. Hastig zog sie daran.
»Es
gefällt mir nicht, wenn du dich allein rumtreibst. Es kann alles Mögliche
passieren, und ich kann dir dann nicht helfen.« Sie drückte die Zigarette aus,
stand auf und kam zu ihr. Die Gummisohlen ihrer Hausschuhe quietschten auf dem
Linoleum. Sie beugte sich vor, und Erich roch ihren Ascheatem, als sie sie
wieder in den Arm nahm. »Die Welt ist schlecht. Niemandem kann man vertrauen,
außer der Familie. Denk daran, Kind!«
»Ich
war nicht allein, Mama. Ich war …«
»Kinder.
Ihr seid ja alle noch Kinder«, erstickte ihre Mutter die Worte, wischte ihren
Einwand beiseite und drückte sie. Ihre Stimme klang dumpf, als sie fortfuhr:
»Sie haben einen Jungen gefunden. Er ist ertrunken. Am Wehr.« Sie ließ Erich
los. »Und jetzt gehst du auf dein Zimmer und denkst darüber nach, was du
gemacht hast.«
***
Das Licht an der
Kaffeemaschine pulsierte im Energiesparmodus. Ich schaute auf die Uhr an meinem
Handgelenk. Bald würde ich wieder ein neues Band kaufen müssen. Die Uhr war ein
klobiges Teil mit altmodischem Ziffernblatt. Ich hatte sie von meinem Großvater
geerbt und erst vor Kurzem wiederentdeckt, als ich auf dem Speicher meines
Elternhauses aufgeräumt und mich in den Kisten verloren hatte. In den
Zeichnungen aus Grundschulzeiten. Für meinen Bruder und mich gab es dort oben
eine Sammelmappe. Die Blätter in meiner waren vergilbt und die Farben blass
geworden. Bei den meisten konnte ich mich nicht erinnern, wann und wo ich sie
gemalt hatte, aber einige wenige
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