Luftkurmord
Besuch bei ihr, mit jeder kurzen
Stippvisite, die ich manchmal zwischen meinen Streifendienstfahrten bei ihr
einlegte, machte sie auf mich einen verloreneren Eindruck. Ihre Andeutungen,
die sie immer mal wieder fallen ließ, wie viel Platz sie doch hätte und dass es
doch überhaupt kein Problem wäre, wenn Steffen und ich zu ihr in das Haus
ziehen würden, konnte ich aus ihrer Sicht heraus gut verstehen, auch wenn es
für mich nicht in Frage käme. Steffen überhörte diese Andeutungen
geflissentlich, und so bestand zu diesem Thema kein Diskussionsbedarf zwischen
uns beiden.
»Ich mach uns einen
Kaffee.« Steffen resignierte und verschwand in der Küche. Helga lächelte mich
an, stellte ihre Handtasche neben den Kuchen und öffnete sie.
»Meinst du, Steffen
hat ein paar Minuten Zeit, um mit mir diese Papiere durchzugehen? Dauert auch
nicht lange. Aber ich komme allein nicht damit klar, und da dachte ich …« Sie
verstummte.
Ich warf einen Blick
auf den dünnen Stapel Papier. Es waren Rechnungen, ein Schreiben der
Telefongesellschaft und eine Werbung für eine Seniorenreise.
»Ich werde mich erst
einmal umziehen«, murmelte ich und strich meine Uniformhose glatt. Ich lächelte
Helga zu, ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir. Aus der Küche
drangen das Klappern von Geschirr, dumpfe Stimmen und der Duft nach frischem
Kaffee. Helga fragte, Steffen antwortete. Ich konnte nicht erkennen, ob er
genervt war. Vielleicht war er ja auch froh, der Diskussion mit mir zu
entkommen. Sonntagnachmittagsgemütlichkeit als Zierdeckchen für schwelende
Konflikte? Ich wusste es nicht. Mir fiel die SMS meines Vaters wieder ein. Ich griff mir eine Jeans aus dem Kleiderstapel, den
ich auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers angehäuft hatte, und ergänzte es um
ein schwarzes T-Shirt und meine Lieblingsstrickjacke.
Ich nutzte die
Gelegenheit, entschuldigte mich bei Helga und nahm Hermanns Transportbox
behutsam auf den Arm, um ihn mitzunehmen.
Der Geruch, der
mich im Hausflur empfing, ähnelte dem, dem ich gerade entflohen war. Kaffee.
Kuchen. Hermann hatte den Käfermotor anscheinend erkannt, mir die Tür geöffnet
und war bereits dabei, Kaffee in große weiße Becher zu füllen.
»Setz dich, Ina. Ich
muss dir was sagen.« Er nahm ein Stück Torte von dem kleinen Papptablett, unter
dem sich das Papier des Konditors knüllte. »Sachertorte war richtig, oder?«,
fragte er übergangslos und legte das Stück, ohne meine Antwort abzuwarten, auf
einen Teller.
Ich schob den
Transporter mit dem Kater auf die Küchenbank, öffnete den Deckel und nahm
Platz.
»Hallo, Pap.«
Hermann brummte
etwas, stellte die Kaffeekanne zurück in die Maschine und ließ sich dann mit
einem Ächzen auf seinen Stuhl fallen.
»Was gibt es bei dir
Neues?«, fragte er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nur aus
Höflichkeit fragte und in Wirklichkeit darauf brannte, mir etwas mitzuteilen.
Ich zögerte kurz. Reginas Tod konnte und wollte ich nicht unter »ferner liefen«
abhandeln, und zu Andrea hatte mein Vater seine ganz eigene Meinung. Würde ich
dieses Thema anschneiden, säßen wir morgen früh noch hier und stritten uns über
die Ansichten meiner Freundin über Gemünd und die Ansichten der Gemünder über
meine Freundin.
»Später«, sagte ich
deshalb und schüttete Milch in meinen Kaffee. Dann streifte ich unter dem Tisch
die Schuhe ab, zog die Beine hoch und umklammerte mit beiden Armen meine Knie.
Unser Startsignal für lange Gespräche, seit ich denken konnte. Hermann hätte
sich jetzt nach vorne beugen, einen Schluck aus seiner Tasse nehmen und sich
danach übers Kinn streichen müssen. Aber er tat es nicht. Stattdessen stand er
auf, schob dabei seinen Stuhl nach hinten und ging zum Fenster. Er faltete die
Hände hinter dem Rücken und wippte auf den Zehen auf und ab, schwieg aber immer
noch.
Ich stellte meine
Füße wieder auf den Fußboden und setzte mich gerade hin. »Was ist los?«
Er holte tief Luft.
»Bist du krank?«
»Nein!« Hermann
drehte sich zu mir herum und sah mich an. »Nein«, wiederholte er ruhiger, kehrte
zum Tisch zurück und setzte sich neben den Kater in seiner Box auf die
Küchenbank.
»Gut.« Ich war
erleichtert. Die Sorgen des letzten Jahres hatten mir voll und ganz gereicht.
Hermann war von der Leiter gestürzt und hatte sich so schwer am Kopf verletzt,
dass er tagelang im Koma gelegen und später wochenlang mit einer Sprachstörung
gekämpft hatte. Dass er wieder so fit vor mir
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