Luftkurmord
riefen so lebendige Erinnerungen in mir wach,
dass es schon beinahe wehtat, wenn ich darüber nachdachte, wie lange das her
war. Nein. Nicht beinahe. Es tat weh. Mehrere Stunden hatte ich allein auf dem
Speicher gesessen, zwischen den durchwühlten Kisten, meine Vergangenheit in drei
Stapel sortiert und mich alt gefühlt. »Müll«, »kann man noch gebrauchen« und
»liebe Erinnerungen«. Der Stapel mit dem Müll war der größte gewesen. Als die
Uhr aus einem zusammengefalteten Samttuch herausgefallen war, hatte ich weinen
müssen, und es hatte mir gutgetan. Keine Datumsanzeige, keine Weltzeit und
keine Funkeinstellung. Sie hätte auf dem Müllstapel landen sollen. Eigentlich.
Stattdessen hatte ich sie um mein Handgelenk gebunden. Sie ging im Laufe eines
jeden Tages mehr und mehr nach, und jeden Abend schenkte ich ihr und mir die
halbe Stunde zurück, die wir beide irgendwo im Laufe der letzten vierundzwanzig
verloren hatten.
Jetzt hatte sie sich
schon wieder einen Vorsprung von zwanzig Minuten herausgearbeitet. Es war also
vier Uhr. Steffen hatte sich den ganzen Tag über nicht gemeldet, um mir zu
sagen, wie es Hermann ging. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, dachte ich
und kramte mein Handy aus meiner Handtasche. Vielleicht hatte er mir ja eine SMS geschickt.
Aber nicht Steffens
Nummer erschien auf dem Display, sondern die Nummer meines Vaters Hermann
Stein.
»muss
dich unbedingt heute sehen. komm bitte nach feierabend zu mir. pap«. Mein Vater bewies zwar mittlerweile
große Souveränität im Umgang mit Neumedien, wie er es nannte, aber die Großbuchstabentaste
seines Handys hatte er immer noch nicht im Griff. Ich runzelte die Stirn und
fragte mich, was er so Wichtiges von mir wollte. Dann drückte ich die
Rückruftaste und lauschte so lange auf das leise Tuten im Hörer, bis eine
freundliche Frauenstimme mir verkündete, dass der Teilnehmer nicht erreichbar
war.
»Soll ich dich
wieder mit nach Gemünd nehmen?«, fragte ich Judith und warf das Telefon zurück
in die Tasche. Sie schreckte hoch.
»Was?«
»Feierabend. Ich
fahre nach Hause. Du hast dein Fahrrad vor Steffens Wohnung stehen. Soll ich
dich mitnehmen?«
Judith klappte ihr
Handy auf, das neben ihr auf dem Schreibtisch gelegen hatte und nickte. »Ja.«
Sie schaltete den Computer aus, raffte ihre Jacke von der Rückenlehne des
Stuhls, und es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie endlich aufstand und
zur Tür ging. »Danke.« Sie öffnete den Mund, sah zurück auf ihren Schreibtisch
und dann mich an.
»Gibt es noch etwas
Wichtiges?«, fragte ich und versuchte, die Frage so klingen zu lassen, wie sie
gemeint war – sachlich interessiert.
Sie schüttelte den
Kopf. »Nein.« Dann sah sie mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich
nicht deuten konnte. »Nein«, wiederholte sie mit fester Stimme, öffnete die Tür
und ging hinaus auf den Flur.
Sie war immer noch
sauer auf mich, aber im Gegensatz zu heute Vormittag hatte ich jetzt nicht mehr
die Energie für nervenaufreibende Grundsatzgespräche über mein unfaires
Verhalten ihr gegenüber. Und meinem Eindruck, dass da sehr wohl etwas war, was
sie mir aber verschwieg, wollte ich heute nicht mehr nachgehen. So beschränkte
ich mich während des Weges auf Höflichkeitsfloskeln, von denen sie vermutlich
genauso gut wie ich wusste, dass sie unseren eigentlichen Gesprächsbedarf nicht
trafen. Aber auch Judith schien müde zu sein, sie stieg am Ende der Fahrt höflich
dankend aus und schwang sich auf ihr Fahrrad.
Aus Steffens
Wohnung drang kein Laut, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür
zum Flur öffnete. Ich stellte meine Tasche auf den Boden, warf die Jacke über
einen Stuhl neben der Garderobe und streifte meine Schuhe ab. Meine Füße
machten kein Geräusch auf dem Parkettboden, während ich zum Wohnzimmer ging,
und es schien, als ob sich die Stille, die in der Wohnung stand, wie eine Höhle
öffnete und ich bräuchte nur hineinzukriechen in ihren Schutz.
»Wie geht es ihm?«,
fragte ich Steffen, als ich das Zimmer betrat, sofort zum Sofa ging und mich
vor Hermanns Transportkiste kniete.
»Gut.« Steffen war
aus dem Sessel aufgestanden, in dem er gesessen und in einer Zeitschrift
gelesen hatte. »Oder besser gesagt, es geht ihm nicht schlechter. Er hat sogar
etwas gefressen.«
»Vielleicht
berappelt er sich ja doch noch mal«, sagte ich, um mich selbst zu betrügen.
Steffen zuckte mit
den Schultern und kam zu mir und dem Kater. »Ina«, begann er, aber
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