Luftkurmord
Dafür wollte ich mich
bedanken.« Sie senkte den Blick und sprach schneller. »Ich weiß natürlich, dass
es selbstverständlich ist, einen Menschen vor Schaden bewahren zu wollen und in
dieser Situation hätte ich auch unmöglich …«
Kai stand auf, ging
um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Dann tat er zum dritten Mal an
diesem Tag etwas, mit dem er selbst nicht gerechnet hatte. Er küsste sie.
***
Der Kater
neben mir schnaufte leise. Er schlief unruhig, und ich bewachte seinen Schlaf.
Seine Kiste stand auf einem Stuhl neben Hermanns Gästebett, das ich seit
Monaten in Beschlag nahm, wenn ich nicht bei Steffen übernachtete. Auch hier
hatte ich mich nur provisorisch eingerichtet, ganz so wie bei Steffen. Ein paar
Klamotten, ein paar Bücher, eine Zahnbürste und die kosmetischen
Notwendigkeiten, die mich morgens menschlich aussehen ließen.
Das klamme Gefühl,
jede Pause zwischen den Atemzügen des Katers könnte sich ins Unendliche
ausdehnen, ließ mich nicht los. Was war nur los mit mir? Die Angst um das Leben
meines uralten Katers überlagerte alles andere.
Wir waren vom Kuchen
nahtlos zu einer guten Flasche Rotwein übergegangen, und Hermann hatte in
ruhigem Ton über sein Testament und seine Wünsche für den, wie er es nannte,
»Fall der Fälle« gesprochen. Ich hatte es mir angehört. Seltsam distanziert.
Der Tod war mir in den letzten fünfundzwanzig Jahren auf so viele
unterschiedliche Weisen begegnet. Zweimal hatte er mich die berufliche Distanz
vergessen lassen, aber innerlich getroffen hatte er mich in dieser Zeit nie.
Auch wenn das Gespräch auf Reginas Selbstmord kam, spürte ich wieder die
professionellen Schutzwälle in mir. Aber mit meinem Vater an unserem alten
Küchentisch zu sitzen und über seinen Tod zu sprechen, als wäre es ein Ausflug,
den man nur gut genug organisieren müsse, damit er zum Vergnügen würde, war
etwas ganz anderes – damit musste ich erst einmal lernen umzugehen.
Ich wälzte mich
herum, starrte nachdenklich an die Decke und lauschte auf das Atmen des Katers.
Vermutlich schlief ich irgendwann dazwischen für ein paar Minuten ein, denn als
Hermann im blau gestreiften Pyjama vor mir stand und mich wach rüttelte, dauerte
es eine Weile, bis ich mich orientieren konnte.
»Ina! Steffen ist
hier.«
Ich setzte mich auf,
schwang mich aus dem Bett und folgte meinem Vater in den Wohnungsflur.
»Was ist passiert?«,
fragte ich und trieb den Schlaf in die hinterste Ecke meiner Gedanken.
»Henrike. Was machst du hier?«
»Mama ist
verschwunden!«
»Sie hat bei mir
geklingelt und wollte zu dir«, erklärte Steffen und schloss die Wohnungstür
hinter sich.
»Was meinst du mit
›Sie ist verschwunden‹?« Ich schob Henrike in die Küche, drückte sie auf einen
Stuhl und räumte die Weingläser und die leere Flasche zur Seite.
»Sie ist weg.«
Henrike sah mich von unten herauf an und verschränkte die Finger ineinander.
»Einfach weg.«
»Andrea kann nicht
einfach weg sein. Es gibt bestimmt eine Erklärung.«
»Ich war den ganzen
Tag bei Nina«, sagte Henrike. »Das hatten wir so verabredet.«
Ich nickte.
»Mama hatte mir fest
versprochen, um acht Uhr abends wieder zu Hause zu sein. Wir wollten kochen und
einen Film zusammen sehen. Das vergisst sie nicht einfach so.« Henrike nahm
eine Strähne ihres langen Haares und drehte sie langsam um den Finger. Es sah
aus, als spiele sie mit einer glänzenden blauschwarzen Schlange. Henrikes
Vater, den Andrea gern als einmalige und verzeihbare, aber durchaus lohnende
Jugendsünde bezeichnete, war Franzose. Allerdings nur dem keltischen Aussehen
nach. Schwarze Haare, blaue Augen. Tatsächlich war er Düsseldorfer und
verheiratet. Das hatte Andrea aber erst herausgefunden, als sie bereits
schwanger war. Vor die Wahl gestellt, in einem adretten Vorort an die mit einem
Frühlingskranz geschmückte Reihenhaustür zu klopfen und der Dame des Hauses den
unerwarteten Zuwachs zu verkünden oder den Mund zu halten, hatte sie auf dem
Absatz kehrtgemacht und sich entschieden, die Sache allein anzugehen. Ich war
die Einzige, die davon wusste. Weder ihrer Schwester Birgit noch ihren Eltern
und schon gar nicht Henrike hatte sie jemals davon erzählt.
Ich sah Steffen an.
»Henrike hat recht. Es ist absolut nicht Andreas Art, Versprechen, die sie
Henrike gegeben hat, einfach so zu brechen«, sagte ich und dachte an die
Standpauke, die sie mir mal gehalten hatte: »Wie soll ich denn von meinem Kind
verlangen, dass es sich an Regeln und
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