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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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nicht verschlossen, und als ich es rausgezogen
habe, fielen mir die Blätter entgegen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe
nicht, was das bedeutet. Vielleicht werdet ihr schlau daraus.«

FÜNF
    Der Gestank war wieder da. Er ging nicht weg. Nicht zu Hause
und nicht hier, in der Schule. Er war immer da. Er kroch durch ihre Nase in
ihren Kopf und nistete sich da ein. Alles andere schaffte sie wegzuschieben.
Die Bilder. Die Strömung. Die Kälte des Wassers. Nur den Gestank nicht. Der
blieb. Sie las die Seite ihres Englischbuches immer und immer wieder, ohne auch
nur ein einziges Wort zu verstehen. Der Junge war tot. Ertrunken. Ihr war kalt.
Noch einmal von vorne. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Es ging nicht.
In der Nacht hatte sie wach gelegen und nachgedacht. Ihr Frühstück und ihr
Pausenbrot hatte sie nicht angerührt. Sie konnte nichts essen. Wenn sie nur
nicht auf Hans gehört hätte. Wenn sie doch bloß umgekehrt wäre. Wenn sie … Die
Schulglocke riss sie aus ihren Gedanken. Sie klappte ihr Buch zu, in das sie
schon die ganze Zeit gestarrt hatte, seit sie viel zu früh in die Klasse
gekommen war. Sie hatte nicht mit den anderen vor der ersten Stunde noch auf
dem Schulhof gespielt. Sie konnte nicht mitlachen. Sie war zu traurig. Die
Klassenarbeit morgen war ihr egal. Sie hob den Kopf und schaute auf die Tafel.
Eigentlich war ja alles egal.
    Der
Stuhl neben ihr wurde mit einem lauten Krachen nach hinten gezogen, und Franz
ließ sich darauffallen.
    »Hallo,
Erich.« Hans hatte sich vor sie auf das Pult gesetzt.
    Sie
antwortete nicht, lehnte sich nach hinten, schaute abwechselnd von einer zur
anderen und senkte dann den Kopf.
    »Habt
ihr es schon gehört?«, flüsterte sie und schob ihr Buch an den äußersten Rand
des Schultisches.
    »Was
gehört?« Hans verschränkte die Arme.
    »Der
Junge. Er ist tot.«
    »Welcher
Junge?«
    »Der
Junge vom Wehr!«
    Franz
und Hans sahen sich mit gespielter Verwunderung an, schüttelten die Köpfe und
zogen die Augenbrauen hoch.
    »Wir
wissen nichts von einem Jungen am Wehr.« Wieder das gleichzeitige
Kopfschütteln. »Du?«
    Erich
schluckte. »Aber wir …«
    »Nichts
›Aber wir‹«, zischte Hans und beugte sich zu ihr vor. »Wir waren nicht am Wehr.
Verstehst du?«
    »Aber
wir hätten ihm helfen müssen. Es ist unsere Schuld, dass er gestorben ist.«
Tränen brannten in Erichs Augen, aber sie konnte nicht weinen.
    »Es
war ein Unfall«, sagte Franz und stand auf. »Ein Unfall«, wiederholte sie
leise. »Und Hans hat recht. Wir waren nicht da.« Sie ging quer durch die Klasse
zu ihrem Platz und setzte sich, ohne Erich noch einmal anzusehen.
    »Nein.
Es ist nicht unsere Schuld.« Hans rutschte vom Tisch, ging um das Pult herum
und setzte sich auf den Stuhl. Sie beugte sich vor, und Erich konnte ihren Atem
riechen. Leberwurst und Orangensaft. »Es ist deine Schuld«, zischte Hans. »Du
warst zu feige, den Reifen zu holen!«
    Erich
erstarrte. »Ich …«, wollte sie erwidern, aber Franz fuhr auf und unterbrach
sie.
    »Deine!«
Sie bohrte den Finger in ihre Brust. »Ganz allein deine.«
    ***
    »Schläft sie?«,
fragte Steffen und blickte auf. Er saß über die Papiere gebeugt am Küchentisch.
Es war selbstverständlich für ihn gewesen, mir bei der Durchsicht zu helfen,
und mitten in der Nacht hatte ich keine Diskussion darüber anfangen wollen,
warum er das alles hier machte.
    Ich nickte, zog die
Wohnzimmertür leise ins Schloss und ging zu ihm. Das Holz des Stuhles knarzte,
als ich mich setzte und eines der Blätter zu mir heranzog. »Sie macht sich
große Sorgen. Und ich, ehrlich gesagt, auch. Es ist einfach nicht Andreas Art,
so mir nichts, dir nichts zu verschwinden.«
    »Könnt ihr sie nicht
als vermisst melden?«
    »Andrea ist eine
erwachsene Frau.« Ich drehte das Blatt vor mir so, dass ich es lesen konnte.
Eine körnige Abbildung des Schleidener Stadtwappens klebte leicht verrutscht in
der rechten oberen Ecke. Die Unterlagen waren Kopien. Schnell, hastig und, wie
es schien, ohne große Sorgfalt angefertigt. Die Schrift schob sich schief über das
Papier, und an der rechten Seite fehlten Buchstaben. »Morgen werde ich mit
Bernhard reden. Mal sehen, was wir machen können.«
    »Morgen?« Steffen
lachte. »Es ist bereits morgen.«
    Ich stöhnte, fuhr
mir mit beiden Händen durch die Haare und reckte mich. Eine weitere schlaflose
Nacht in meinem Leben. Ohne Vorwarnung lief eine heiße Welle über meine Brust,
breitete sich über die Arme und über den Hals bis

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