Luftkurmord
ihr Sicherheit
geben würde.
»Ich muss gleich zum
Dienst. Und hier«, ich machte eine kurze Handbewegung in Richtung des Lärms,
der aus der restlichen Wohnung drang, »kannst du auch nicht bleiben.«
»Was machst du mit
Hermann?« Henrike bückte sich zu dem Kater hinunter, der die ganze Zeit in
seiner Kiste vor sich hin gedämmert hatte, und kraulte ihn. »Du kannst ihn doch
nicht mitnehmen.«
»Ich hatte es vor.«
»Kann ich nicht auf
ihn aufpassen, während ich auf Mama warte?«
Ich betrachtete die
beiden nachdenklich. Es würde keinen Sinn machen, Henrike in die Schule zu
schicken, solange sie mit den Gedanken bei ihrer Mutter war. Das war mir klar
gewesen, noch bevor ich sie gefragt hatte. Mir war es um die Ablenkung
gegangen. Ich hatte gehofft, die Schule könnte sie von den Sorgen und der Angst
ablenken, von der ich hoffte, dass sie sich als unbegründet erweisen würde. Der
Kater erfüllte vermutlich den gleichen Zweck. Und an Henrikes pflegerischen
Fähigkeiten hatte ich ebenfalls keinen Zweifel. Sie kannte Hermann bereits ihr
ganzes Leben lang und hing auf ihre ganz eigene Weise an ihm. Sie meinte es gut
mit ihm, und das war die Hauptsache.
»In Ordnung.« Ich
nickte. »Du wirst auf ihn aufpassen. Aber nicht hier. Ich bringe dich zu
Birgit«, sagte ich und griff nach meinem Handy.
»Muss das?« Henrike
zog die Stirn in Falten.
»Ja.« Ich hielt ihr
das Telefon hin. »Willst du selbst anrufen? Ich kenne ihre Nummer nicht
auswendig.«
Henrike schüttelte
den Kopf und schob meine Hand von sich weg, nannte mir aber schließlich die
Nummer ihrer Tante.
***
Nichts ist egal,
dachte Kai Rokke und betrachtete Judiths Rücken. Sie schlief von ihm abgewandt,
zusammengerollt wie ein Kind, die Haare wirr über Kopf und Kissen verteilt. Als
er sie vor ein paar Stunden geküsst hatte, hatte es ihn noch mehr überrascht
als sie. Und jetzt lag er hier, neben ihrem nackten Rücken und wollte von allem
noch mehr haben. Von dem Kuss, von ihr und von dem Essen. Er hatte Hunger. Auf
vieles. Er stand auf, deckte Judith zu und ging leise zum Tisch, auf dem die
halb leeren Teller standen. Die Nudeln waren kalt. Der Ketchup klebte sie
aneinander, und der Parmesan zog lange, erstarrte Fäden, als er die Gabel
volllud und aß. Für einen Moment erwartete er das altbekannte würgende Gefühl,
aber es blieb aus. Er aß, Gabel um Gabel, schlang und schluckte, bis beide
Teller leer waren.
Judith bewegte sich
und wandte ihm im Schlaf ihr Gesicht zu. Er beobachtete sie von seinem Platz
aus. Still. Rührte sich nicht.
Die Haut der Frau
heute Morgen war kalt gewesen. Ihre Augen geschlossen. Das Haar in nassen
Strähnen über dem Gesicht verteilt. Sie war schön gewesen, auf eine seltsame,
unberührbare Art. Er hatte der Polizei nichts von der Viertelstunde erzählt, in
der er nur dagesessen und sie betrachtet hatte. So wie er jetzt Judith
betrachtete.
»Kai?« Er schrak
zusammen. Judith sah ihn an. Sie war wach. Der Augenblick war vorbei.
»Ja?« Er stand auf
und ging zu ihr. Er kniete sich vor das Bett, nahm ihre Hand und legte seine
Wange daran. Dann kroch er über sie, ihren Bauch und ihren Hals hinauf. Hunger.
»Kai?« Judith
stemmte ihre Hände gegen seine Schultern.
»Ja?« Er stoppte
mitten in der Bewegung.
»Ich habe
nachgedacht.«
»Du hast
geschlafen.«
Sie lachte nicht.
Ihre Hände lagen immer noch auf seinen Schultern. Mit einer kurzen Drehung wand
sie sich unter ihm hervor, schob ihre Beine aus dem Bett und griff nach ihrer
Bluse.
»Es ist besser, wenn
ich jetzt gehe«, sagte sie, ohne ihn anzusehen und zog sich an. »Du bist ein
Zeuge in einem Mordfall, und ich darf nicht …« Sie unterbrach sich, stand auf
und schloss den Reißverschluss. Kai Rokke spürte, wie etwas in seinem Magen sich
verkrampfte. »Ich sorge dafür, dass du die ›Lydia‹ so schnell wie möglich
zurückbekommst.« Mit schnellen, kleinen Bewegungen schloss sie die Knöpfe der
Bluse, rückte den Kragen zurecht und zupfte die Ärmel gerade.
Kai nickte.
Eigentlich wollte er ihr eine Antwort geben, sie fragen, warum das ein Problem
war, ob er das Problem war. Er wollte mit ihr sprechen, wollte, dass seine
Worte sie zum Bleiben bewegten. Aber er schwieg.
Stattdessen sah er
ihr zu, wie sie ihre Schuhe anzog, aufstand und zur Tür des Wohnmobils ging.
Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. Ein vages Lächeln, Schritte auf den
Metallstufen, das Geräusch eines Automotors, das langsam leiser wurde, je
weiter sich der Wagen entfernte.
Er
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