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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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rollte sich auf den
Rücken und presste beide Hände auf den Magen, bevor er aufsprang, aus dem
Wohnmobil an den Rand der Wiese stürzte und sich übergab.
    Kai Rokke
spuckte den weißen Schaum ins Waschbecken, spülte seinen Mund mit Wasser aus
und wischte sich das Gesicht trocken. Jetzt ging es ihm besser. Körperlich. Der
Ekel war verschwunden. Aber dieses nagende Gefühl war geblieben. Der Hunger. Er
nahm sein Handy aus der Tasche. Kurz nach acht. Montag. Er beschloss, sich neue
Kleidung zu beschaffen, die »Lydia« abzuholen und danach Judith zu suchen.
Nein. Umgekehrt. Erst Judith. Dann die »Lydia«. Er konnte sie nicht einfach so
gehen lassen, jetzt, wo sie … Er stutzte. Wo sie was? Was war denn schon
geschehen, was nicht so oder so ähnlich jeden Tag, an jedem Ort, zu jeder Zeit,
mit jedem geschah? Aber er war nicht jeder, und für ihn war es etwas Besonderes
gewesen. Weniger, weil Judith sich auf ihn eingelassen, sich nicht von dem
Wohnmobil, seinem Hobby und seinem lädierten Äußeren hatte abschrecken lassen.
Nein. Was ihn wirklich wunderte, war das, was sie in ihm ausgelöst hatte, oder
besser noch, was sie ihn vergessen ließ. Das konnte er nicht so einfach abtun
und sie sang- und klanglos aus seinem Leben verschwinden lassen. Er würde zu
ihr gehen, ihr alles erklären und sie bitten, es mit ihm zu versuchen.
    ***
    »Habt ihr immer
noch nichts von Andrea gehört?« Birgit nahm Henrike zur Begrüßung kurz in den
Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, vor dem das Mädchen mit einer
abrupten Bewegung floh. Birgit seufzte, zog eine Augenbraue hoch und grinste.
»Oh, Verzeihung. Ich vergaß. Du bist zu groß für so was.«
    Sie sah mich an. »So
ist das wohl. Wir alten Tanten sind nicht mehr cool genug.« Sie zuckte mit den
Schultern. »Aber egal. Möchtest du noch einen Kaffee, bevor du zum Dienst
musst, Ina?«, fragte sie und wies mit der Hand in Richtung Küche.
    Ich folgte ihr mit
Henrike durch den Flur. Dunkle Steinfliesen, weiße Wände. In einer Ecke eine
zylinderförmige Vase mit einer einzelnen Blüte darin. Der kleine Goldrahmen mit
dem handgestickten Gedicht darüber wirkte seltsam deplatziert.
    Birgit folgte meinem
Blick und lächelte. »Eine kleine Sentimentalität aus meiner Kindheit. ›In einem
leeren Haselstrauch, da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch. Der Erich rechts
und links der Franz und mittendrin der freche Hans. Sie haben die Augen zu, ganz
zu, und obendrüber, da schneit es, hu!‹«, deklamierte sie. Sie seufzte, rückte
das Bild mit einer Fingerspitze gerade und ging weiter. »Gut, dass du noch
einen Moment Zeit hast. Dann kannst du mich auch mal auf den aktuellen Stand
bringen. Was zum Teufel ist denn da gestern los gewesen in Gemünd? Ich habe
gehört, dass was mit Regina passiert sein soll, und jetzt noch Andrea?« Ich
folgte ihr und der Duftspur edlen Parfüms, die hinter ihr durch den Raum wehte.
    »Du hattest Streit
mit ihr?«, fragte ich, ohne auf ihre Bitte einzugehen. Andrea war wichtiger.
Ich stellte meine Tasche auf ihren Küchentisch und wandte mich zu ihr um.
Birgit lachte. Es irritierte mich. Nicht nur ihre Stimme klang wie Andreas,
sondern auch ihre Art zu lachen war dieselbe. Andrea und Birgit. Sie ähnelten
sich in so vielen Äußerlichkeiten, hatten die gleiche Figur, die gleiche Größe,
die gleiche Augenfarbe. Trotzdem konnten Menschen nicht unterschiedlicher sein
als diese Schwestern. Als ob sie bewusst darauf achteten, anders zu sein als
die andere. Konnte man sich bewusst für oder gegen einen persönlichen
Charakterzug entscheiden, um sich von jemandem abzugrenzen? Oder waren die
Lebenseinstellungen nur vorgeschoben, und die dauernden Streitigkeiten zeigten
das wahre Ausmaß der Ähnlichkeit und damit die gegenseitige Verletzlichkeit?
Birgit hatte es ihrer Schwester bis heute nicht verziehen, dass sie mich zu
Henrikes Patentante gemacht hatte und nicht sie.
    »Ach«, wiegelte sie
mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, »wir haben eigentlich immer Streit.«
Sie bestätigte damit meine Vermutung. Sie ging zu ihrer in die Wand
eingelassenen Kaffeemaschine, stellte eine Tasse hinein und drückte auf einen
Schalter. »Nichts, was ich mache, findet Gnade in ihren Augen. Aber«, wieder
lachte sie und schob mir die Tasse zu, »ich habe mich daran gewöhnt in all den
Jahren. Wir sind halt zu verschieden.« Sie ging zum Kühlschrank, öffnete ihn
und nahm eine Milchpackung heraus. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch
ein wenig der Neid ist, der

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