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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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Haarsträhne aus meiner Stirn. »Nicht schön.«
    »Nein. Nicht schön.
Aber ich habe ja genug Arbeit, um mich abzulenken.« Er grinste mich mit einem
schiefen Lächeln an. Einer spontanen Eingebung folgend stellte ich mein Glas ab
und nahm ihn in den Arm. Als ich mich wieder von ihm löste, empfand ich so
etwas wie Verlegenheit. Thomas schwieg und erwiderte stumm meinen Blick. Dann
holten wir beide gleichzeitig Luft, ich schnappte mir mein Glas und trank es in
einem Zug aus.
    »Ich werde dann mal
wieder nach Hermann suchen«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen. »Aber wir
sehen uns bestimmt!«, rief ich ihm über die Schulter hinweg zu, während ich den
Flur entlangging und darüber nachdachte, warum er mich nicht nach Steffen
gefragt und ich ihm nichts über Steffen erzählt hatte.
    »Ihr Vater ist
eben gekommen. Er sitzt dort hinten am Fenster«, erklärte mir die Empfangsdame,
als ich an ihr vorbeiging, und wies in den Speisesaal. Ich folgte ihrer Geste
und entdeckte Hermann an einem Tisch am hinteren Ende des Saals. Er war nicht
allein. Ich glaubte, die alte Dame zu erkennen, mit der ich im Park gesprochen
hatte. Und war der Mann, der mit dem Rücken zu mir saß, nicht Alfons Brinke,
Reginas Vater? Es schien, als ob sie in eine rege Diskussion vertieft wären.
Hermann lachte über die Bemerkung der Frau und bemerkte mich erst, als ich fast
neben ihm stand.
    »Ina!« Er erhob sich
von seinem Stuhl und begrüßte mich. »Darf ich dir Frau Eckholz vorstellen? Sie
wohnt ebenfalls hier im Haus. Alfons Brinke kennst du ja.«
    Ich zog mir einen
Stuhl heran. Das war einer der Vorteile des Landlebens. Für Reginas Vater war
sofort ein Platz zur Verfügung gestellt worden, weil klar war, dass er sich
nach dem Tod seiner Tochter nicht selbst versorgen konnte. Hier kümmerte man
sich zuerst um die Hilfe, dann um die Formalitäten.
    »Wir sind uns schon
begegnet, Ihre Tochter und ich«, sagte eine heisere Stimme. »Amalie Eckholz.«
Sie lächelte mich an. »Da habe ich Ihren Vater ja schneller kennengelernt, als
zu erwarten war.«
    Ich nickte.
    »Regina?« Alfons
Brinke drehte sich suchend um. »Hast du Regina mitgebracht?«
    Ich schwieg. Aus
Hermanns Gesicht wich das Lächeln, er schaute zu mir und runzelte die Stirn.
    »Das ist Ina, Herr
Brinke. Nicht Regina.« Amalie Eckholz beugte sich vor und sprach automatisch
ein wenig lauter.
    Alfons Brinke
schüttelte den Kopf, als ob er ein lästiges Insekt abschütteln wollte, und sah
mich aus wässrig-blauen Augen an. »Die Kinder spielen miteinander, und Regina
weiß, dass sie nicht allein, ohne die anderen Mädchen, nach Hause gehen darf.
Also«, fragte er streng, »wo ist sie, Ina?«
    In meinem Hals
bildete sich ein Kloß. Für Alfons Brinke war ich zehn Jahre alt und die
Freundin seiner Tochter. Er erinnerte sich nicht an das, was gestern und
vorgestern oder in der letzten Woche geschehen war. Die Krankheit hatte sein
Kurzzeitgedächtnis zerstört und fraß seine Erinnerungen rückwärts in der Zeit
auf.
    Fieberhaft überlegte
ich, wie ich am besten reagieren konnte. Ihm zu widersprechen machte wenig
Sinn, zumal er nichts von Reginas Tod wusste. In diesem Punkt hatte man ihren
letzten Wunsch respektiert – auch, weil es Alfons Brinke komplett überfordert
hätte, den Tod seiner Tochter zu begreifen.
    »Regina ist noch mit
Andrea und Birgit unterwegs. Ich musste früher gehen, weil ich es Papa
versprochen hatte.« Ich legte Hermann eine Hand auf den Arm.
    »Sie wird sicher
bald kommen, Alfons«, sagte er mit leiser Stimme. Alfons Brinke nickte einige
Male gedankenverloren, wühlte dann in einer Plastiktüte, die er neben sich auf
dem Boden stehen hatte, und zog eine Flöte hervor.
    »Sie haben so schön
gespielt?« Jetzt war ich ehrlich überrascht.
    Alfons Brinke setzte
die Flöte an, legte die Finger auf die richtigen Stellen und bewegte sie im
Rhythmus eines Liedes, das nur er hören konnte. Er schloss die Augen und wiegte
seinen Oberkörper langsam hin und her. Stumm betrachteten wir anderen seine
Bewegungen. Mitten in seinem stillen Tanz verharrte er, schlug die Augen auf
und rang nach Luft. »Sie sollen aber nicht am Bach spielen!« Er stand auf,
stopfte die Flöte in die Tüte zurück und ging rasch zum Ausgang. »Nicht am
Bach! Ich habe es ihr verboten. Der Bach ist gefährlich. Ich muss zum Bach und
sie holen!« Er hatte fast die Tür erreicht. Hermann sprang auf.
    »Weiß er es?«,
fragte er mich und folgte Alfons Brinke, um ihn aufzuhalten. Noch bevor

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