Luftkurmord
halten kann, meine Patentochter wohnt bei mir, weil ihre
Mutter, die meine beste Freundin ist, spurlos verschwunden ist, und mein Kater
stirbt.« Ich holte tief Luft, sah ihn an und schluckte. »Reicht das?«
»Was hältst du von
Pizza, alkoholfreiem Bier und reden?«
»Sehr viel.« Ich
kramte in meiner Tasche nach dem Handy, um Steffen Bescheid zu sagen und
verharrte mitten in der Bewegung. Nein. Ich war ihm keine Rechenschaft
schuldig.
»Die Pizzeria hat
zu.« Thomas wies im Vorbeifahren auf die erloschene Neonreklame. »Tut es auch
eine Tiefkühlpizza aus dem Discounter?«
Eine Stunde
später saßen wir mit gekreuzten Beinen vor Thomas’ Sofa. Vor uns zwei leere
Teller und hinter uns eine Stunde, in der wir über alles und jeden geredet
hatten, nur nicht über die Sachen, die mich so in Anspruch nahmen. Es hatte mir
gutgetan, und zweimal hatte ich so herzhaft lachen müssen, dass ich Thomas nun
das Geld für die Entfernung der Tomatenflecken von seinen Teppich schuldete.
»Ich danke dir.« Ich
lächelte ihn an. »Für die Pizza und die Zeit und für das Lachen.« Ich stellte
mein Glas auf den Tisch, entknotete meine Beine und stand auf. Thomas erhob
sich ebenfalls. »Dann mache ich mich jetzt auf den Heimweg.«
»Soll ich dich
fahren?«
»Nein. Lass mal. Die
paar Schritte kann ich auch gehen.« Bis zu Steffens Wohnung waren es höchstens
zehn Minuten Fußweg.
»Okay.« Er
begleitete mich zur Haustür. »Gute Nacht, Ina.«
»Gute Nacht«,
erwiderte ich und beugte mich vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Er
nahm mich in den Arm und zog mich an sich. Als er mich küsste, überlegte ich
kurz, ob es Absicht, Plan oder Zufall gewesen war. Dann überlegte ich nicht
mehr. Seine Hände strichen über mein Gesicht, meine Haut, meinen Hals. Ich
erwiderte seine Küsse. Irgendwann waren wir nackt und fanden das Bett. Ich
vergaß zu denken und erkundete seinen Körper. Wir tanzten miteinander,
ineinander. Zu einer Musik, deren Rhythmus immer schneller, immer härter wurde,
und die nur wir beide hören konnten.
Ich hätte ein
schlechtes Gewissen haben müssen, aber ich hatte keines. Keine Schuldgefühle.
Die Urftseestraße erstreckte sich vor mir im Halbdämmerlicht der Laternen, als
ich am Gebäude des Finanzamtes vorbeiging und dem Geräusch meiner eigenen
Schritte lauschte. Kein schlechtes Gewissen, aber den Wunsch, Steffen nicht zu
verletzen, bei dem, was nun kommen würde. Was nun unweigerlich kommen musste,
weil die Dinge an die richtige Stelle gerückt worden waren. Ob ich mit Thomas
eine Beziehung haben wollte, ob er das wollte und ob es überhaupt einen Sinn
machen würde – darüber dachte ich nicht nach. Das war Zukunftsmusik. Aber meine
ewige Unentschlossenheit in Bezug auf das Zusammenleben mit Steffen hatte einen
Grund, den ich mir selbst erst jetzt eingestehen konnte. Oder mir erst jetzt
eingestehen wollte? Ich war mir meiner Gefühle Steffen gegenüber nicht sicher.
Nicht so, dass es für die Dauer reichen würde. Und nun? Brauchte ich die
Aussicht auf eine neue Beziehung, um die alte beenden zu können? Ich wollte ihn
nicht verletzen, aber das würde unweigerlich geschehen. Ich hatte Angst, damit
auch mich selbst zu verletzen.
Auf den Stufen zu
Steffens Haustür hielt ich inne. Am liebsten wäre ich in Hermanns Wohnung
gegangen, auch wenn sie leer und halb ausgeräumt war. Aber das ging nicht. Bei
Steffen warteten auch Henrike und der Kater auf mich. Meine Mundwinkel zuckten.
Eine Fastfamilie. War ich wirklich bereit, das alles aufzugeben? Ich öffnete
leise die Tür, schloss die Augen und atmete tief durch. Ja. Ich musste. Alles
andere wäre eine Lüge gewesen und nicht fair. Niemandem gegenüber.
Henrike schlief auf
dem Sofa, die Kiste mit dem Kater neben sich auf dem Boden. Ich strich ihr über
die Stirn, kniete mich vor die Kiste und schaute hinein. Hermann blinzelte, hob
den Kopf und maunzte stumm. Ich nahm ihn auf den Arm. Sofort fing er an zu
schnurren. Mit der freien Hand angelte ich die Decke vom Sessel, der hinter mir
stand, legte mich auf den Teppich und deckte mich und den Kater zu. Ich wollte
allein sein. Mit mir und meinen Gedanken und dem Kater.
»Ich muss mich
verabschieden, Hermann. Von dir. Und von so vielem.« Ich spürte, wie Tränen
hinter meinen Lider brannten, und schloss die Augen.
NEUN
Es war nicht abgeschlossen. Die Schlüssel hingen zwar an dem
dünnen braunen Bändchen, das sie sich aus Wollresten selbst gedreht und mit
einer Schleife am Tagebuch befestigt
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