Luftkurmord
nicht am Bach spielen. Das erlaube ich ihr
nicht. Auch wenn sie noch so schreit und weint.«
»Wer schreit?«,
versuchte ich es erneut.
»Ach, Ina!« Er sah
mich an, als ob er mich heute zum ersten Mal sehen würde. »Ist denn deine
Schule schon aus?«
»Komm, Alfons.«
Hermann half ihm aus dem Sitz, hakte ihn unter, führte ihn langsam um den Wagen
herum und setzte ihn auf den Beifahrersitz seines Autos. »Ich bringe dich nach
Hause, und dann spielen wir beide noch eine Runde Karten. Was hältst du davon?«
***
»Hast du jemals
eine Mutter gehört, die ihr Baby als krank bezeichnet, nur weil sie es pflegen
muss?« Thomas lehnte sich gegen die Platte der weißen Küchenzeile im Pausenraum
und klappte Alfons Brinkes Akte zu. Er hatte ihn sofort nach unserer Rückkehr
ins Altenheim untersucht und außer einigen Kratzern auf den Handrücken und
einem abgebrochenen Nagel keine Verletzungen feststellen können. Danach hatte
er mich zu einem Kaffee eingeladen, und ich hatte ihm erzählt, wie wir Alfons
Brinke gefunden hatten.
Ich schüttelte den
Kopf, antwortete aber nicht, weil ich ahnte, was jetzt kam.
»Aber am Ende des
Lebens ist es so, und niemand nimmt daran Anstoß. Dabei frage ich mich
manchmal«, er legte die Akte weg, »wer kränker ist. Wir, die wir jeder Minute
hinterherhetzen, nur unsere Terminkalender im Kopf haben und nichts und
niemanden vergessen, aber darüber hinaus keine Zeit für unsere Mitmenschen,
unsere Freunde und unsere Familien haben? Oder die, deren Zeit keine Struktur
mehr hat, die aber dafür die Liebe derer spüren, die sich um sie kümmern?«
»Ich hätte Angst
davor, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren und von anderen abhängig zu
sein«, erwiderte ich leise.
Thomas lachte. Es
klang bitter.
»Machen wir uns doch
nichts vor, Ina. Ich will auf keinen Fall behaupten, dass Demenz ein Zuckerschlecken
ist. Weder für die Betroffenen noch für die Angehörigen. Für die erst recht
nicht.« Er trank einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte die Tasse weg.
»Aber kannst du ernsthaft von dir behaupten, unabhängig zu sein? Keine Hilfe zu
benötigen?«
»Ich kann allein
essen, mich anziehen und waschen.«
»Das meine ich
nicht.«
»Aber das sind die
existenziellen Dinge.«
»Wirklich?« Er ging
zur Tür, ohne auf meine Antwort zu warten. »Ich habe jetzt Feierabend. Nach
einem Tag voller Termine, Arbeit und Anstrengung. Aber selbst darin kann ich
nicht frei entscheiden«, ergänzte er und kontrollierte sein Handy.
»Rufbereitschaft.«
Ich folgte ihm auf
den Gang hinaus. Unschlüssig blieb ich stehen. Sollte ich noch einmal zu
Hermann gehen? Ich seufzte. Das war einer dieser vollgepackten Tage, die
einfach kein Ende nehmen wollten, und so langsam spürte ich ihn in den Knochen.
»Warte, ich gehe mit
dir runter«, entschied ich mich und beschloss, gleich morgen früh vor
Dienstbeginn hierherzukommen und mit Hermann zu frühstücken.
Schweigend gingen
wir nebeneinander durch das Treppenhaus, den Eingangsbereich und auf den
Parkplatz hinaus. Ich winkte Thomas zum Abschied zu und stieg in meinen Käfer.
Nach dem achten
vergeblichen Versuch, den Motor zu starten, klopfte es an meine Scheibe.
»Komm, ich fahr
dich.« Thomas stand neben meinem Wagen.
Ich lehnte meinen
Kopf an die Scheibe, schloss die Augen und war einen Moment lang versucht, der
bleiernen Müdigkeit nachzugeben, die in meine Muskeln kroch.
»Jetzt komm, Ina.
Dein Auto lassen wir morgen abschleppen.«
Ich zog den
Schlüssel ab und öffnete die Tür. »Was soll’s«, murmelte ich, stieg aus und
folgte Thomas zu seinem Wagen, ohne mir die Mühe zu machen, den Käfer
abzuschließen.
»Bist du so müde,
wie du aussiehst?« Thomas sah mich von der Fahrerseite aus an. Ich grinste.
»Na, das ist aber
ein tolles Kompliment.«
»Ich hatte auch
nicht vor, dir ein Kompliment zu machen. Ich wollte wissen, wie es dir geht.«
»Als mein Arzt?«
»Auch. Aber auch als
dein Freund.« Er sah vor sich auf die Straße.
»Als Arzt – ich
glaube, ich habe mir einen Virus eingefangen, von dem meine Praktikantin meint,
es wären die Wechseljahre, weil sie es bei ihrer Mutter so gesehen hat.« Ich
verdrehte die Augen. »Als Freund? Nein, es geht mir nicht gut. Mein Vater zieht
freiwillig ins Altenheim, eine Frau, die ich gut kenne und um die ich mich zu
wenig gekümmert habe, soll Selbstmord begangen haben, was ich nicht glaube.
Mein Chef wird langsam sauer, weil ich mich bei den Ermittlungen und auch sonst
nicht an die Regeln
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