Luftkurmord
hatte, aber das Schloss war geöffnet.
Erich atmete mit fest verschlossenen Lippen heftig durch die Nase ein und
unterdrückte das Stöhnen, das tief in ihrer Brust entstand, wuchs und mit Macht
nach außen wollte. Sie schloss das Buch immer zu. Immer. Versteckte es in der
Holztäfelung hinter ihrem Bett. Die Ritze zwischen Nut und Feder des dritten
Brettes war breit genug, um ihre Geheimnisse aufzunehmen. Jemand hatte es
gefunden. Geöffnet. Gelesen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Empörung und
die Angst suchten immer noch einen Weg durch ihre Kehle. Jemand konnte nur eine
sein. Mama. Hatte sie sie deswegen über die Suppe hinweg so angesehen? Die
Stirn gerunzelt und so laut geschwiegen? Jetzt verstand sie die Frage, ob sie
ihr etwas erzählen wolle. Mama kannte jetzt ihre Geheimnisse. Die Schatten auf
ihrer Seele, die sie für immer wegsperren wollte.
Sie
ließ sich auf ihr Bett fallen und spürte, wie ihr Herz schlug. Schnell und laut
und hart. Sie starrte an die Decke. Sie war fünfzehn Jahre alt und schaffte es
manchmal, es zu vergessen. Für Stunden, Tage. Einmal hatte sie sogar über eine
Woche nicht daran gedacht. Aber das war selten. Es hatte sich in ihre Erinnerung
gefressen wie ein Geschwür, wie eine Pflanze, die ihre Nahrung aus dem Blut des
Baumes saugte, auf dem sie sich eingenistet hatte. Niemand kam und schlug sie
ab. Und wenn sie es Mama erzählen würde? Wenn sie alles sagen würde? Jetzt, wo
sie ohnehin alles wusste? Ihre Gedanken, ihre Angst und ihre Verzweiflung
gelesen hatte? Vielleicht würde Mama ihr helfen, das Geschwür abschlagen, und
sie müsste nicht mehr tun, was Hans von ihr wollte. Nie mehr. Es klopfte. Sie
richtete sich auf.
»Ja?«
»Kann
ich reinkommen?«
»Ja.«
Sie schwang die Beine über den Bettrand. Mama mochte es nicht, wenn sie am
helllichten Tage auf ihrem Bett lag.
Ihre
Mutter blieb in der geöffneten Tür stehen, lehnte sich gegen den Türrahmen und
verschränkte die Arme.
»Ich
muss mit dir reden.« Ihr Ton ließ keinen Rückschluss zu.
»Ja.«
Sie schluckte. »Worüber?«
»Darüber.«
Mama zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das Tagebuch.
»Du
hast es gelesen, obwohl es mein geheimes Tagebuch ist und ich es versteckt
hatte.« Automatisch zog sie den Kopf ein, sobald sie das gesagt hatte. Die
Bemerkung war ihr einfach so herausgerutscht, getrieben und mit Schwung
versehen von der aufgestauten Wut.
»Wir
haben keine Geheimnisse voreinander, Kind.« Ihre Mutter kam näher und blieb vor
dem Bett stehen. »Wir sind eine Familie.«
Erich
blieb reglos sitzen, starrte auf ihre Zehenspitzen in den roten Socken und
folgte mit den Augen den Mustern des Teppichs, die sich wie Straßen durch ihr
Zimmer zogen. Winzige Straßen, die geradeaus liefen, rechts und links abbogen
und am Ende doch nirgendwo anders hinführten als an ihren Ausgangspunkt zurück.
Immer wieder. Egal wohin sie sich auch wandte.
»Wir
sind eine Familie, Kind«, wiederholte ihre Mutter, setzte sich neben sie und
legte eine Hand auf ihren Rücken.
Für
einen Moment lehnte Erich sich an sie an, hoffte, jetzt Trost und Hilfe zu
finden. Einen Plan. Eine Idee, wie sie ihr Problem lösen und sich von der
Schuld befreien konnte. Es war ein Fehler gewesen, ihren Eltern nichts von
allem zu erzählen. Ihre Mutter strich sanft über ihren Kopf, und sie schloss
die Augen, fühlte sich beinahe erleichtert.
»Und
weil wir eine Familie sind, ist es wichtig, dass alle Familienmitglieder auf
den guten Ruf achten. Wenn einer Schuld auf sich lädt, fällt sie auf alle
zurück.« Die Hand ihrer Mutter glitt Erichs Rücken hinunter, verharrte und
löste sich dann. Sie beugte sich ein Stück nach hinten. »Verstehst du, was ich
meine?«
Sie
sah sie an. Verständnislos. Wollte nicht verstehen. »Nein, Mama.«
»Deine
Schuld, die du auf dich geladen hast, muss unser Geheimnis bleiben. Unter allen
Umständen. Niemand darf erfahren, welche Rolle du bei dem Tod des Jungen
gespielt hast. Es würde auf mich und auf deinen Vater zurückfallen, die Leute …« Sie rang die Hände, rieb sie über ihre Oberschenkel, als ob sie sich etwas
Ekelhaftes abwischen wollte, und stand schließlich wieder auf.
Erich
spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Allein. Allein. Allein. Sie
war allein.
»Und
was ist mit«, sie zögerte, »mit Hans?«
»Sie
wird es irgendwann vergessen. So lange wirst du ihr beim Lernen helfen. Es ist
ja auch eine christliche Tat, jemandem, der schwächer ist, beizustehen.« Sie
ging zur
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