Luftkurmord
Köpfe schienen über den Grabsteinen zu schweben, als
sie die Wege abschritten. Amalie langsam und in ihrem ganz eigenen Tempo,
Hermann mit ausholenden, langen Schritten. Ab und zu blickten wir uns an,
schüttelnden den Kopf und gingen weiter. Nichts.
Ein frischer
Blumenschmuck auf einem der alten Gräber fiel mir auf. Davor lag ein
Matchboxauto, dessen Lack vergilbt war und abblätterte. Ich runzelte die Stirn,
als ich die in den Stein gemeißelten Daten las. Der Junge musste bald vierzig
Jahre tot sein. Sein Name kam mir bekannt vor. Es dauerte einen Moment, dann
fiel mir ein, warum. Er war beim Spielen in der Urft ertrunken. Ein
schrecklicher Unfall. Ich erinnerte mich, dass wir damals alle Reifenverbot
bekamen und nur noch im Schwimmbad ins Wasser gehen durften.
Nach fünfzehn
Minuten hatten wir den alten Teil des Friedhofs, nach zwanzig weiteren den
neuen Teil durchkämmt. Beides ohne Erfolg.
»Wohin jetzt?«,
fragte Hermann, als wir am Eingangstor wieder aufeinandertrafen.
»Die Praxen«, schlug
Amalie vor. »Dabei können wir uns ein wenig ausruhen. So viel bin ich schon
lange nicht mehr gelaufen.« Sie öffnete den Verschluss ihrer Handtasche, nahm
eine Packung Frischetücher, öffnete eines davon und wischte sich die Stirn
damit ab. »Ich brauche dringend eine Pause.«
Ich nickte. Die
Praxen konnten wir anfahren. Ich würde aussteigen und in der Umgebung nachsehen,
und Hermann und Amalie könnten im Wagen warten.
Aber meine
Befürchtung, auch hier keinen Erfolg bei der Suche zu haben, erwies sich leider
als genauso wahr wie bei den Stammkneipen und den Cafés, in die Alfons in der
Vergangenheit gerne eingekehrt war.
Frustriert fuhren
wir zurück zum Altenheim.
»Ich könnte mich …«,
fluchte Hermann, wurde aber sofort von Amalie unterbrochen. Sie drehte sich auf
dem Beifahrersitz um und hob abwehrend die Hand.
»Nein, Hermann. Das
ist nicht deine Schuld. Es ist niemandes Schuld. Alfons ist nicht Herr seiner
Sinne. Er erinnert sich an Altes und vergisst vieles von dem, was für ihn neu
ist. Das ist bedauerlich, aber es ist so. Aber du bist nicht sein Kindermädchen.
Du bist sein Freund. Und das ist nicht dasselbe«, ergänzte sie mit erhobenem
Zeigefinger, als Hermann ihr ins Wort fallen wollte.
Hermann nickte, und
im Rückspiegel sah ich, wie er die Schultern hängen ließ. Dann blickte er auf
und seine Augen strahlten.
»Du bist genial,
Amalie!« Er warf ihr eine Kusshand zu. »Das ist vielleicht die Lösung!«
Ich wurde hellhörig.
»Was ist die Lösung?«
»Er erinnert sich an
das Alte und vergisst das Neue.« Hermann rutschte auf dem Rücksitz ein Stück
nach vorne und hielt sich an den Kopfstützen fest. »Das Alte haben wir
abgesucht. Was ist, wenn er sich einfach nicht erinnert, wie er wieder
zurückkommt? Wenn er sich schlicht und ergreifend verfahren hat?«
Amalie stöhnte.
»Dann ist es ja völlig aussichtslos, ihn zu finden.«
»Oder auch nicht.«
Hermann klopfte mir auf die Schulter und wies nach rechts, auf die Straße, die
der Abzweigung zum Altenheim gegenüberlag. »Vielleicht hat er nur die falsche
Ausfahrt genommen. Fahr zum Heldenfriedhof hoch, Ina. Fahr da rein.«
Ich setzte den Blinker,
bog nach rechts ab und quälte den Käfer den steilen Anstieg über die Batterie
zur, wie es offiziell hieß, Kriegsgräberstätte hinauf. Hier ruhten seit 1951
die Gebeine der Gefallenen der Schlacht im Hürtgenwald.
»Da steht mein
Auto!«, rief Hermann, nachdem wir die zweite enge Kurve hinter uns gebracht
hatten und vor uns die mächtige Friedhofsmauer aus Grauwacke zu sehen war. Kurz
vor dem Eingang bremste ich, sprang aus dem Käfer und lief zu Hermanns Wagen.
Alfons Brinke saß auf dem Vordersitz und starrte vor sich auf das Lenkrad.
»Herr Brinke?« Ich
öffnete die Tür und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Geht es Ihnen gut?«
Er wandte den Kopf.
»Ina«, sagte er dann
leise und stieg aus.
»Pap, ruf im
Altenheim an und sag ihnen, wir haben ihn gefunden! Mein Handy ist in der
Handtasche.«
»Geht es ihm gut?«
Amalie war ebenfalls ausgestiegen und kam mit vorsichtigen Schritten auf uns
zu.
»Die Mädchen sind
unmöglich. Sie hätte es mir früher erzählen müssen. Jetzt kann ich nichts mehr
daran ändern!«, schimpfte Alfons Brinke los. »Jetzt will sie Hilfe haben.
Jetzt, wo es zu spät ist.«
»Was hätten sie
Ihnen erzählen sollen, Herr Brinke?« Ich beugte mich zu ihm und sah ihm direkt
in die Augen.
»Sie will, dass ich
die Tür aufmache, aber sie dürfen
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