Lukianenko Sergej
dass er ihn erkannt hatte.
Er hatte ihn erkannt – aber nicht angesprochen.
Der Baron und seine (ebenfalls schweigende) Familie
hatten an einem bescheidenen Tisch Platz genommen, der
schon für das Abendessen gedeckt war. Die Baronin war
eine magere Frau mit langer Nase, die das schwarze Haar
zu einem glatten Knoten aufgesteckt hatte. Die beiden
mittleren Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren zehn
und sieben Jahre alt. Die älteren Kinder dienten als Knappen oder Pagen bei Nachbarbaronen, die jüngeren wurden
von den Kinderfrauen gefüttert und durften nicht mit am
Tisch sitzen. Schließlich waren noch die beiden jüngeren
Brüder des Barons anwesend, ebenfalls dicke Herren, die
gern tranken, allerdings aus Mangel an Land und Geld
stets finster dreinblickten. Der Hauptmann der Wache, ein
tapferer Soldat voller Narben, trug eine schlichte Rüstung
und zuckte in einem fort nervös mit dem rechten Lid.
Einen Zauberer hatte der Fischerbaron nicht. Zauberer
lebten nicht gern in den armen Schlössern kleiner Barone.
Und das Schloss war arm. Die eingestaubten Mosaikfenster ließen kaum Licht durch, vom Thron blätterte das feine
Blattgold ab, die Teppiche am Boden waren zerschlissen,
in den Kerzenhaltern brannte nur je eine Kerze, noch dazu
eine aus Talg, nicht aus Wachs.
Thor Galan ließ sich Zeit. Er befeuchtete sich die Lippen und schielte zu seiner Frau hinüber. Er hob den Blick
an die verrußte Decke, anschließend starrte er auf die
Spitzen seiner Schuhe.
Trix wartete. Entweder würde Galan ihn anerkennen
oder als Usurpator anklagen. Oder nein: Wenn er ihn nicht
anerkannte, würde er, Trix, die Peitsche zu spüren kriegen.
Plötzlich lächelte der Fischerbaron, sein Gesicht erstrahlte – und es wurde sofort klar, warum er der »gute
Baron« hieß.
»Trix! Trix Solier, mein Junge! Du lebst!«
Trix seufzte erleichtert und bemerkte erst jetzt, dass
seine Hände feucht von Schweiß waren.
Der Baron erhob sich. »Und wer ist das?«
»Der getreue Knappe Ian«, antwortete Trix.
»Was für ein würdiger Knappe!«, sagte der Baron. »Er
lässt seinen Herrn nicht im Stich. Das ist ein ruhmreiches
Verhalten, das auch einem erwachsenen Manne von adligem Blut gut zu Gesicht stünde … Kommt her, meine
Kinder!«
Trix und Ian traten vor den Baron. Dieser schloss sie
in die Arme und gab jedem von ihnen einen Kuss. Der
Baron roch nach Wein, Knoblauch und Hundezwinger.
»Wir wollen die Rettung des edlen Trix feiern!«, verkündete der Baron. »Kerzen! Wein! Noch ein Huhn und
einen Teller!«
Trix sah Ian triumphierend an und zwinkerte ihm zu.
»Wir werden sehen, wie wir dir helfen können«, sagte
Galan und kniff Ian in die Wange. »Wie du gewachsen
bist, du Lauselümmel! Aber ich erkenne das edle Blut der
Solier!«
»Eure Durchlaucht!«, sagte Trix empört. »Baron …«
Die kräftigen Finger des Barons legten sich ihm sanft
in den Nacken.
»Danke mir nicht, treuer Knappe«, sagte der Baron lächelnd. »Ich werde alles tun, um deinem Herrn zu helfen.«
Ian warf Trix einen verzweifelten Blick zu.
»Dir hat’s wohl die Sprache verschlagen, was, Trix«,
wandte sich der Baron an Ian, wobei er die Finger nicht
vom Nacken des echten Trix nahm. »Nur nicht so
schüchtern!«
»Ich bin Eurer Durchlaucht für die versprochene Hilfe
dankbar«, murmelte Ian. Er linste zu Trix hinüber.
»Aber …«
»Wein für den edlen Trix!«, brüllte der Baron und
knuffte Ian.
Der brachte schon wieder kein Wort heraus. Trix war
ohnehin sprachlos. Der Baron konnte sie doch nicht verwechseln! Nicht, nachdem er ihn so angesehen hatte!
»Nachher«, flüsterte ihm der Baron ins Ohr. »Nach
dem Essen reden wir über alles!«
Er schickte die Jungen ans Ende des Tischs. Wie im
Traum stellte sich Trix hinter Ian. Der Diener drückte Ian
einen Becher mit Wein in die Hand und stellte einen
Holzteller mit Brathähnchen vor ihn. Ian drehte sich zu
Trix um. »Das wollte ich nicht!«, flüsterte er mit panischer Stimme. »Das ist nicht meine Schuld!«
Trix hatte die Sache inzwischen jedoch durchschaut.
Der vorsichtige Galan traute nicht mal seinen eigenen
Leuten über den Weg und wollte ihn, Trix, vor einem
Meuchelmörder schützen! Deshalb musste Ian sich für
seinen Herrn ausgeben, deshalb musste Trix ihn bei
Tisch bedienen. Genau wie in der Geschichte mit Granis,
dem Ritter von Strick und Stock, dem die Ehre zuteilgeworden war, Dekaran dem Weisen als Knappe zu dienen
und an seiner Stelle den qualvollen Tod durch vier Pferde
zu
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