Lukianenko Sergej
Geheimnis
preiszugeben. So einfach ist das.«
»Und … so logisch«, gab Trix zu.
Traurig blickte er zum Fenster hinaus. Draußen war es
schon ganz dunkel.
An diesem Abend fiel in der Hauptstadt der erste Schnee.
Ein feiner Schnee, überraschend früh, der sofort schmolz,
kaum dass er den Straßendreck berührte. Die Hausfrauen
eilten vom Markt nach Hause, schimpften auf das Wetter,
an dem, wie sie ganz genau wussten, natürlich mal wieder
die Magier schuld waren, die mit ihrem unverantwortlichen Zaubern sogar die Jahreszeiten verhunzt hatten.
Die Kinder machten dagegen begeistert Schneebälle, die
allerdings eher an Dreckbälle erinnerten. Die Fuhrleute
erhöhten vorsorglich den Preis pro Fahrt, was sie mit
dem größeren Risiko für die Pferde und dem gestiegenen
Haferpreis (schließlich stand eine Missernte unweigerlich
bevor) begründeten. Die Männer waren ganz zufrieden,
hatten sie doch jetzt einen guten Grund, auf dem Weg
nach Hause in eine Kneipe einzukehren und sich mit dem
einen oder anderen Gläschen Schnaps oder einem Becher
heißen Weins mit Gewürzen aufzuwärmen.
Wenn es an diesem Abend in der Nähe der Straße der
Wunderlichen Wurmkurenden Würdenträger einen aufmerksamen und nur auf das Pflaster schauenden (auf der
Suche nach einer Münze?) Menschen gegeben hätte, wären ihm womöglich die kleinen Fußspuren aufgefallen,
die wie aus dem Nichts im Schnee auftauchten. Dieser
Beobachter hätte vielleicht vermutet, da gehe eine Zauberin durch die Straße, die sich unter einem unsichtbar machenden Umhang verbarg, der wie durch ein Wunder aus
alten Zeiten gerettet worden war. Oder ein sehr kleiner
Mann. Und wenn es in der Straße ein magisches Wesen
gegeben hätte, dann hätte es einen Jungen beobachten
können, den aus irgendeinem Grund niemand sonst bemerkte, weshalb er allen Entgegenkommenden scharf
ausweichen musste.
Aber es gab weder menschliche Beobachter noch aufmerksame Zauberwesen in der Straße. Auf dem Weg zur
Repräsentanz der Co-Herzöge Gris und Solier kam Trix
auch an der Residenz des Fürsten Dillon und an etlichen
anderen Vertretungen von Baronen vorbei (größtenteils
dunkle und leere Bauten, nur hier und da hatte sich mal
ein Wachposten den Ofen angezündet). Selbst an der Repräsentanz Samarschans lief er vorbei (da kein Samarschaner sich je einer Wurmkur unterzogen hatte, wies die
offizielle Adresse die Nebenstraße aus). Schließlich ragte
vor Trix das vertraute (wenn auch nur aufgrund von Beschreibungen im Register der Besitztümer des CoHerzogs) zweistöckige Haus mit Mansarde auf. Das
Schild über dem Eingang war bereits umgeschrieben, das
Wappen und der Name Solier übermalt. Bisher hatte es
allerdings noch niemand gewagt, im Wappen der Gris die
zweite Hälfte des halbierten Throns dazuzumalen, denn
dafür war die Erlaubnis des Königs nötig. So zeigte es
nach wie vor nur einen halben Thron und einen Beutel
voller Gold. Das übermalte Wappen der Soliers hatte die
andere Hälfte des Throns und ein Schwert gezeigt,
schließlich waren die ersten Soliers einst große Krieger,
während die Gris nur reiche Kaufleute waren.
Trix presste die Lippen fest aufeinander. Er war ein
Zauberer. Und jetzt auch ein bisschen ein Assassine. Er
war stärker als jeder Krieger und jeder Kaufmann. Er
würde sich rächen … grausam rächen!
Grausam und unehrenhaft.
Indem er dem Feind gefälschte Beweise unterschob.
Konnten seine ruhmvollen Vorfahren ein solches Verhalten billigen?
Trix runzelte die Stirn, während er die Familienüberlieferungen durchging, sich vor allem jene Teile in Erinnerung rief, über die sich die Chroniken nur vage äußerten.
Ja, es gab keinen Zweifel.
Seine Vorfahren würden es billigen. Wenn sie Trix
jetzt beobachten könnten – aus jener wundervollen Welt
nach dem Tod oder aus einem wiedergeborenen Körper –,
dann würden sie Beifall klatschen und »Bravo!« rufen.
Die Chroniken erwähnten nicht einen Baron, Herzog
oder König, der auf jede List und Tücke verzichtet hätte,
um seinen Feind zu schlagen. Dagegen gab es mehr als
einen, der vom Feind geschlagen wurde, weil er es nicht
geschafft hatte, ihn zu überlisten. Die Chroniken erwähnten diese Unglücklichen aber nicht gern.
Trix seufzte. Nein, er durfte nicht verlieren. Auf gar
keinen Fall! Dann blieben seine Eltern ungerächt. Dann
müsste Tiana den alten Vitamanten heiraten. Dann würde
Sauerampfer im Kerker vermodern, Ian zum Tode verurteilt, Hallenberry zu einem
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