Lukianenko Sergej
Gesellschaft so beliebte Monstrum einbaute: einen Aufzug
mit Windantrieb. (Das Monstrum in Sauerampfers Turm
bestand nicht aus Stein oder Metall, es hatten also nicht
Zwerge, die anerkannten Meister auf diesem Gebiet, geschaffen, sondern Menschen oder Elfen.)
Schließlich endete der lange Weg hinauf. Die Plattform blieb ruckartig vor einer weiteren Tür stehen. Trix
schnappte sich den Korb und trat schnell in den sicheren
Steingang. Wie jeder adlige Junge glaubte er felsenfest,
Steinbauten seien unzerstörbar. Und glücklicherweise
hatte er sich bisher noch nicht vom Gegenteil überzeugen
lassen müssen.
Durch eine schmale Galerie mit hoher Gewölbedecke
gelangte Trix in die Küche. Sowohl die Galerie wie auch
die Küche gingen nach Osten und die Sonne flutete herein. Er packte den Korbinhalt in eine Truhe und die Beeren auf Eis, öffnete beide Flügel des Fensters, hielt sich
zur Sicherheit an der Mittelstrebe fest und beugte sich ein
wenig hinaus. Glücklich blickte er in den strahlenden
Sonnenschein.
Es hätte ihm nicht besser gehen können!
Der Turm schien sich über die grüne Wiese mit den
roten Rosentupfern zu bewegen. Der Wind schlug Trix
ins Gesicht und jagte weit unten in Wellen übers Gras.
Über ihm quietschten die Windmühlenflügel. Wenn er
die Augen halb schloss, konnte er sich mühelos vorstellen, dass unter ihm das tosende Meer lag, die Taue im
Wind knarrten und er selbst sich am Bug eines durch die
kalten, grünen Wellen pflügenden Schiffs befand. Und
vor ihm stand ein schönes Mädchen mit ausgebreiteten
Armen, so als wolle sie einen fliegenden Vogel nachahmen, und Trix hielt sie sanft an der Taille gefasst. Er
meinte sogar, in den Windböen ein wundersames Lied in
einer fremden Sprache zu hören.
Das Geräusch der kleinen Glocke riss Trix aus seinen
Träumereien. Erschrocken trat er vom Fenster weg. Alle
Fantasien waren sofort wie weggeblasen.
(Man darf einen träumenden Menschen nie abrupt ansprechen, und zwar nicht, weil die Seele dann nicht zurück in den Körper findet. Das ist Aberglaube. Nein,
wenn ein Traum lebendig genug gewesen ist, löst er sich
nicht auf, sondern treibt durchs Universum, bis er in einem anderen Kopf landet, in einer anderen Welt, in einer
anderen Zeit. Und man kann von Glück sagen, wenn der
fremde Traum nichts Schlimmes anrichtet. Man stelle
sich doch bloß mal vor, was ein Wilder durchmacht, der
plötzlich ganz genau weiß, wie man eine Dampfmaschine
oder eine Armbrust baut! Oder wie ein schüchterner
Höhlenvampir leidet, der sich den Traum eines Büroangestellten von einem Sommerurlaub unter strahlender
Tropensonne einfängt!
Aber Radion Sauerampfer hatte keine Ahnung, dass
sein Schüler in dieser Minute gerade träumte. Deshalb
wollen wir dem Magier keinen Vorwurf machen.
Schließlich hat ein Zauberlehrling nun mal die Pflicht,
allzeit bereit zu sein.)
Zur Musik des fordernden Glöckchens eilte Trix an
die Sprechröhre, die neben der Tür aus der Wand ragte.
Er zog den Pfropfen heraus und sagte laut in die Röhre:
»Ja, Herr Magier?«
Die Glocke verstummte. Trix presste das Ohr gegen
die Röhre und hörte die entfernte Stimme: »Kaffee,
Schüler! Und … und ein Brötchen mit Apfelmarmelade.«
»Jawoll!«, antwortete Trix. In den vergangenen drei
Tagen hatte er sowohl den Tagesablauf Sauerampfers
wie auch seinen Geschmack kennengelernt.
Als Erstes setzte Trix den Kessel auf den Herd. Dann
nahm er drei gelbe Beeren vom Eis und zerstampfte sie
in einem Kupfermörser. Die Beeren verwandelten sich in
feines, schimmerndes Pulver. Er wartete, bis das Wasser
kochte, dann goss er es in die Lieblingstasse von Radion,
ein weißes, glasiertes Stück mit bunter Bemalung: Ein
Eichhörnchen pflückte Nüsse von einem Gebüsch. Das
Tier trug Hosen und einen Korb. Nach Trix’ Dafürhalten
gehörte es sich für einen in die Jahre gekommenen Magier zwar nicht, aus einer Kindertasse zu trinken, doch
verlor er darüber kein Wort.
Nachdem er das Wasser eingegossen hatte, zählte er
leise bis zwanzig. Bei der Zubereitung von Bergkaffee
durfte das Wasser nicht zu heiß, aber auch nicht zu kalt
sein. Sobald Trix »zwanzig« gesagt hatte, streute er das
Pulver in die Tasse und verrührte es rasch mit einem Löffel.
Die Flüssigkeit wurde erst grau, dann braun, dann
himbeerfarben und schließlich, als habe sie sich mit dem
Unvermeidlichen abgefunden, weiß wie Milch – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Temperatur richtig gewesen und
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