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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Moment und in der flüchtigen Sekunde im Nebel nur, dass er dunkel gekleidet war. Er lief schnell und hatte den Kopf eingezogen. Beim Blick in den Rückspiegel sah ich schon nichts mehr von ihm.
    Noch einmal fünfhundert Meter weiter stand die Garageam Wegrand, die Nicole Rehbach mir als Zielpunkt genannt hatte. Davor stand ein roter Van und blockierte die Ausfahrt. Alarmierend war daran nichts, und später hätte ich nicht sagen können, was an dem Van mich veranlasst hatte zu halten.
    Der fallende Nebel legte sich wie ein feuchtes Tuch auf mein Gesicht. Fünfzig Meter zum Anbau. Der Betonpfad zwischen den Beeten bröckelte an den Rändern, war dunkel und glitschig von der Nässe. Ich musste aufpassen, wohin ich trat. Als ich noch etwa zehn Meter von der Terrasse entfernt war, hörte ich es. Ein dünnes, schwaches Stimmchen, dem die Kraft fehlte, laut zu schreien. «Hilfe, warum hilft mir denn keiner?»
    Ich rannte die letzten Meter, die Rampe hinauf. Eine Tür, die sich durch einen Knauf und ein Türschloss von üblichen Terrassentüren unterschied, stand weit offen. Auf dem Kachelboden dahinter hatte sich Feuchtigkeit ausgebreitet. Eine Trittspur führte von außen herein.
    Der Wohnraum war übersichtlich, spärlich eingerichtet. Drei Zimmertüren führten in andere Räume, zwei an der Stirnwand waren geschlossen, die Tür an der rechten Seitenwand offen. Aus dem Raum dahinter kam die schwache Stimme. Die Hilferufe waren verstummt, stattdessen stammelte sie jetzt: «Ich bin ganz vorsichtig, Nicole. Ich tu dir nicht weh. Ich kann dich auch tragen. Ich weiß, wie das geht. Das habe ich in der Fahrschule gelernt.»
    Das Schlafzimmer. Neben der freien Hälfte des Doppelbetts, nahe der Tür, zerrte ein unförmiges Geschöpf in Latzhose, Pullover und Sportschuhen das Laken von der Matratze. Auf dem Teppichboden vor dem Fußende des Bettes verteilten sich dunkelrot gefärbte Papierknäuel. Taschentücher, mit denen sie die Wunden betupft hatte.
    Sie drehte mir für einen Moment das Gesicht zu,nackte Panik in den Augen. Ein bekanntes Gesicht. Aber ich kannte sie doch alle, die mit dem Sommer 95 zu tun gehabt hatten. Patrizia Rehbach, dass sie inzwischen Kleu hieß, wusste ich noch nicht.
    Ich war wieder mittendrin, fühlte mich sekundenlang wie in einem Alptraum. Der verfluchte Sommer und der März 96, wie oft ich davon geträumt hatte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann hatte ich aufgehört, die Nächte zu zählen, in denen ich aus dem Schlaf schreckte. Immer der gleiche Traum, Ben an meiner Seite beim Birnbaum. Er setzte den Klappspaten an, um eine Leiche zu vergraben. Und ich ließ es ihn tun.
    Mein Mann hatte mir häufig erklärt, es seien Gewissensbisse. Nur mit ihm hatte ich gesprochen über meine Erkenntnis, dass Ben die drei Frauen begraben hatte. Und er hatte wiederholt gesagt: «Ich verstehe nicht, was in dir vorgegangen ist, Brigitte. Da können fünf Gutachter behaupten, der Mann stelle keine Gefahr für seine Umwelt dar. Als sie zu der Ansicht gelangten, wussten sie nicht, was er sich geleistet hatte. Und du lässt ihn da einfach zurück. Was hast du dir dabei gedacht?»
    Gar nichts. Doch, natürlich eine Menge, ich hatte es doch nur für Trude getan. Für all die Stunden in ihrer Küche, für die immer gleiche Frage: «Was hätten Sie gemacht, wenn er Ihr Sohn wäre, Frau Halinger?»
    Keine Ahnung, wirklich nicht. Ich hatte mich nie in Trudes Lage versetzen können. Mein Sohn sprach zwar auch in knappen, aber klar verständlichen Sätzen. Wenn er zu Hause etwas auf den Tisch legte, mussten sich niemandem die Nackenhaare sträuben. Es sollte nach Möglichkeit nur jemand die Geldbörse zücken und ihm erstatten, was er ausgelegt hatte für Schulbücher oder neue Socken. Mein Sohn hatte nur gegen eine leichte Akne gekämpft, nie um ein Leben. Und er hatte nie Angst vorseinem Vater haben müssen, war nie geschlagen worden. Mein Mann ist Pazifist, er löst Probleme mit endlosen Diskussionen. Es geht einem häufig auf die Nerven, aber es tut nicht weh.
    Man hat mir später vorgeworfen, ich hätte erneut vertuschen wollen, was ich im März 96 glaubte erkannt zu haben. Ich hätte nur versucht, mich selbst zu schützen und nichts anderes im Kopf gehabt als den Blutsommer. So war es nicht. Ich habe nicht versucht, mich selbst zu schützen. Aber was hätte ich anderes im Kopf haben sollen bei diesem Anblick?
    Nicole Rehbach lag bäuchlings auf der zweiten Betthälfte. Es war nicht sehr hell im Zimmer, der Tag zu trüb,

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