Lukkas Erbe
ihn beinahe in die Arme genommen hätte.
Sie sah sich neben Ben im Auto sitzen, hatte diesen Duft in der Nase, Aftershave, und dachte, das gibt’s nicht. Wer würde von Ben erwarten, dass er Aftershave benutzt? Ein Mann nach dem anderen. Überall waren Männer, und ihrer saß mit einem Dauerkatheter am Computer. Sie war erleichtert, als Patrizia erschien und sie aus ihren Gedanken riss.
Patrizia erkundigte sich, ob der Abschied im Seniorenheim schwer gefallen sei, und tröstete: «Ich glaube, es ist aber besser für dich. Du musst dir nicht mehr anschauen, wie jemand stirbt. Das ist ja ein großes Problem bei so alten Leuten. Weißt du noch, wie Oma gestorben ist? Das hat so lange gedauert. Da hat Hartmut oft gesagt, das kann er sich kaum anschauen, er fährt eigentlich nur noch hin, weil er dich sehen will.»
«Ja, das weiß ich noch», sagte sie.
Dann bewunderte Patrizia die kleinen Abschiedsgeschenke, die inzwischen ausgepackt auf dem Sideboard lagen. Patrizia wollte wissen, ob Nicole das wirklich alles brauche oder ob sie das eine oder andere Teil haben könne. Ben würde sich bestimmt freuen über eine kleine Spieluhr, auf der sich eine Tänzerin zu einem Sonett drehte.
«Nimm sie», sagte Nicole. «Wer ist eigentlich auf den Gedanken gekommen, ihm ein Aftershave zu kaufen?»
«Dieters Mutter», antwortete Patrizia. «Er hatte sich mal eine leere Flasche von Dieters Vater aus dem Müll genommen. Da hat sie ihm ein eigenes mitgebracht. Das riecht gut, oder?»
«Ja», sagte Nicole. «Es riecht sehr gut.»
Patrizia hob die Spieluhr an. «Danke. Das ist wirklich nett von dir, dass er die haben darf. Aber er ist auch so ein lieber Kerl. Wenn du am Montag zu Miriam gehst, kannst du vielleicht mal mit ihr sprechen. Ab nächsten Freitag wird er sie ja auch regelmäßig besuchen, er kriegt eine Förderstunde pro Woche. Finde ich toll, dass sie das macht. Und ich dachte, wenn du ihr sagst, dass er so schöne Figuren macht, dann spricht sie mal mit Dieters Vater, dass er wieder ein Messer haben darf. Er muss doch irgendwas haben, womit er sich beschäftigen kann.»
«Das muss aber doch nicht ausgerechnet ein Messer sein», meinte Nicole, dachte an die Warnung, die Walter Hambloch ausgesprochen, und die Spraydose, die er ihr in den Korb gelegt hatte. Tränengas. Pass gut auf dich auf, versprich mir das.
13. Oktober 1997
Als der Mann in der Nacht kam, jammerte die Frau nicht mehr. Dorit Prang hatte sich in dem zugigen, dreckigen Loch eine Erkältung zugezogen und war mit dem Knebel im Mund qualvoll erstickt.
Der Mann bemerkte nicht sofort, dass sie tot war. Kalt war sie in jeder Nacht gewesen, weil es in dem Gewölbekeller so kalt war. Und im schwachen, unruhigen Licht der Kerzen fielen ihm die ersten, leichten Verfärbungen ihrer Haut nicht auf. Als er dann registrierte, was mit ihr geschehen war, war er sehr enttäuscht, betrachtete es aber nicht als seine Schuld.
Er blieb zwei Stunden bei ihr, häufte wieder die Steine vor den Eingang, weil er sie noch eine Weile behalten wollte. Bei ihr sitzen und von Nicole träumen.
In dieser Nacht zog es ihn mit Macht zu Nicole, wenigstens ihre Nähe wollte er spüren. Es war viel zu spät, um sie nochmal sehen zu können.
Zu seinem Erstaunen brannte noch Licht im Schlafzimmer. Er sah den schmalen gelben Streifen durch die Gardine fallen. Nicole zog die Gardine nie völlig zu. Vorsichtig schlich er über den Betonpfad heran. Man musste immer aufpassen, wohin man trat. Manchmal lagen kleine Steinchen auf dem Pfad, dann knirschte es unter den Schuhen.
Und dann hörte er etwas, das ihn maßlos zornig machte. Nicole wollte dafür sorgen, dass die beiden Frauen gefunden wurden. Ihr Mann schien nicht einverstanden zu sein. Nicole redete weiter auf ihn ein. Er verstand jedes Wort. Sie sprach über Svenja Krahl und Katrin Terjung. Über Miriam Wagner und einen Hinweis, den Lukka hinterlassen hatte. Es klang, als habe Svenja Krahl Lukka noch gesagt, wem sie im Bendchen begegnet war.
Länger als eine Stunde stand er auf seinem Horchposten, stand noch da, als es hinter dem Fenster längst dunkel geworden war. Als er endlich ging, wusste er genau, was er tun musste, um seine Freiheit zu behalten.
In dieser Nacht starb Rita Meier. Wenige Stunden später, am Morgen des 14. Oktober, verschwand Katrin Terjung. Sie verließ ihr Elternhaus an der Bachstraße kurz vor sechs Uhr, wollte mit dem ersten Bus nach Lohberg, dort den Zug nehmen und ihren Freund in Norddeutschland
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